Frau Nia

Ein platonischer Dialog

Frau Nia Frau Nia, Hayos Englischlehrerin, schaut von der Tafel auf und sieht, wie Hayo einen Zettel weitergibt, auf dem ein Witz darüber steht, wie schwarz ihr Hintern ist. Sie reißt ihn Hayo aus der Hand und liest ihn.

“Willst du der ganzen Klasse erzählen, was auf diesem Zettel steht, junger Mann?” fragt sie in einem strengen Ton.

Hayo “Oh Verzeihung, Frau Nia, ich habe das gar nicht so gemeint. Es war dumm und gemein von mir. Ich bitte sie höflich, diesen Zettel zu vernichten.”

Frau Nia Frau Nia sieht Hayo an, ihre Augen werden leicht weich. Sie legt den Zettel auf ihrem Schreibtisch ab und geht zu ihm hinüber.

“Ich schätze deine Ehrlichkeit, Hayo”, sagt sie leise, “aber lass mich etwas klarstellen. Ich dulde keine Form von Rassismus oder Respektlosigkeit in meinem Klassenzimmer. Jetzt lassen wir diesen Vorfall hinter uns und konzentrieren uns auf den Unterricht.”

Hayo “Selbstverständlich, Frau Nia. Lieben Dank!”

Frau Nia Frau Nia nickt, ihr Gesicht ist immer noch streng, aber in ihren Augen liegt eine Wärme, als sie seine Entschuldigung anerkennt.

“Dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen”, schlägt sie vor und wendet sich von ihm ab, um die Kreide wieder in die Hand zu nehmen. Sie beginnt, an die Tafel zu schreiben, aber ab und zu wirft sie einen Blick zu Hayo, um sich zu vergewissern, dass er aufmerksam ist und nicht wieder abgelenkt wird. Sie weiß, dass sie ihn im Auge behalten muss, denn sie will nicht, dass sich dieser Vorfall wiederholt.

Nachdem sie den Unterricht beendet hat, entlässt Frau Nia die Klasse in die Mittagspause. Als die Schüler nach draußen gehen, geht sie auf Hayo zu. “Hayo, kann ich dich kurz sprechen, nachdem alle anderen gegangen sind?”, fragt sie leise und versucht, trotz der anhaltenden Spannungen zwischen ihnen ein professionelles Auftreten zu wahren.

Hayo “Ja, natürlich, Frau Nia! – Ich weiß, dass ich etwas falsch gemacht habe.”

Frau Nia Frau Nia sieht zu, wie der Rest der Klasse nach draußen geht und nur Hayo und sie in dem ruhigen Raum zurückbleiben. Sobald sie allein sind, dreht sie sich zu ihm um, die Arme vor der Brust verschränkt.

“Du hast mehr als nur 'einen Fehler' gemacht, Hayo”, sagt sie mit fester Stimme, die einen Hauch von Enttäuschung enthält. “Was du geschrieben hast, war verletzend und inakzeptabel. Es ist wichtig, dass du das verstehst.”

Ihr Blick ist intensiv, und doch liegt eine gewisse Zärtlichkeit in ihren Augen, während sie spricht. Sie möchte, dass er aus dieser Erfahrung lernt und sich nicht nur entschuldigt.

Hayo “Beim Schreiben des Zettels war mir das nicht bewusst, Frau Nia, aber jetzt verstehe ich es.

Wissen Sie, jeder weiß, dass Sie eine Lehrkraft diese Schule sind und ich einer ihrer Schüler. Diese Tatsache definiert unsere Beziehung zueinander. – Für Sie bin ich zweifellos dieser Schüler. Für mich sind Sie seit einiger Zeit aber nicht nur eine Lehrerin. Es ist da eine andere Ebene entstanden, in der auch – bitte entschuldigen Sie – Ihr Hintern eine Rolle spielt, nicht jedoch dessen Farbe. Der Bezug auf die Farbe diente mir nur als Aufhänger, als Anlass, mich zu diesem Thema zu äußern, das mich sehr beschäftigt. Er war also gar nicht rassistisch gemeint... – Ich hoffe, ich konnte das irgendwie verständlich... – es ist nicht einfach für mich, glauben Sie mir...”

Frau Nia Frau Nia hört aufmerksam zu, als Hayo versucht, sich zu erklären, und ihr Gesichtsausdruck wird ein wenig weicher. Seine Worte sind herzlich und aufrichtig, und sie kann nicht umhin, einen Anflug von Mitgefühl für ihn zu empfinden.

“Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen, Hayo”, sagt sie sanft, “und ich verstehe, dass du nicht absichtlich Schaden anrichten wolltest. Aber es geht nicht nur um die Absicht hinter der Nachricht, sondern auch um die Wirkung, die sie auf mich hatte.” Sie hält einen Moment inne und sammelt ihre Gedanken, bevor sie fortfährt. “Die Wahrheit ist, Hayo, dass diese Situation für uns beide nicht einfach ist. Du hast eine Grenze überschritten, und ich muss dafür sorgen, dass das nicht noch einmal passiert. Wir müssen einen Weg finden, das Vertrauen wiederherzustellen.”

Hayo “Einiges an der Situation kann ich sicherlich ändern, Frau Nia. Welches wäre der erste Schritt, den Sie vorschlagen würden?”

Frau Nia Frau Nia seufzt leise und fährt sich mit der Hand durch die Haare, während sie über seine Frage nachdenkt. Sie lehnt sich an ihren Schreibtisch und sieht nachdenklich aus.

“Der erste Schritt wäre, dass du echte Reue zeigst”, sagt sie langsam. “Das bedeutet, dass du die Verantwortung für dein Handeln übernimmst und dafür sorgst, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen. Du musst Grenzen respektieren, sowohl meine als auch die der anderen.”

Sie stößt sich vom Schreibtisch ab und tritt näher an ihn heran. “Zweitens würde ich gerne sehen, dass du einige proaktive Schritte unternimmst. Wie willst du verhindern, dass du in Zukunft ähnliche Fehler machst?” Ihre Augen suchen sein Gesicht nach Anzeichen von Aufrichtigkeit und Entschlossenheit ab.

Hayo “Zunächst würde ich gern einige Dinge feststellen. Wir reden hier von einem einzigen Vorgang. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, in diesem Zusammenhang von 'Handlungen' oder von 'Fehlern' zu reden. Die Annahme, ohne eine echte Zerknirschung meinerseits müsse es unweigerlich zu weiteren Fehltritten durch mich kommen, lässt sich durch mein bisheriges Verhalten nicht rechtfertigen. Zu dieser Einschätzung könnte man demnach nur dann kommen, wenn man eine problematische Grundhaltung bei mir voraussetzt, der mit geeigneten Maßnahmen begegnet werden muss, etwa Rassismus oder Sexismus oder dergleichen. Diesen Verdacht wollte ich aber gerade durch meine Selbsterklärung entkräften. Dass Sie dennoch daran festhalten, zeigt mir, dass Sie mir nicht glauben. Das macht mich ratlos.”

Frau Nia Frau Nia holt tief Luft, um sich auf das vorzubereiten, was sie als Nächstes sagen wird. Ihr Gesichtsausdruck wird härter, ein klares Zeichen für ihre wachsende Frustration.

“Hayo, ich verstehe, woher du kommst”, beginnt sie mit ruhiger, aber fester Stimme, “und ich schätze deinen Wunsch, die Dinge zu klären. Aber deine Taten sagen mehr als deine Worte.”

Sie deutet auf die Tür. “Du hast eine Notiz geschrieben, die rassistisch, erniedrigend und respektlos war. Das ist eine Tatsache. Ihre Leugnung oder Erklärung ändert daran nichts. Auch wenn du vielleicht glaubst, dass du zu Unrecht angegriffen wirst, muss ich auf der Grundlage der tatsächlichen Geschehnisse Maßnahmen ergreifen.”

Ihr Blick wird wieder etwas weicher. “Ich möchte dir helfen zu verstehen, warum dein Handeln falsch war, Hayo. Aber jetzt muss ich erst einmal überlegen, wie ich das am besten anstelle.”

Hayo “Frau Nia, ich schätze Ihre Klugheit und Autorität. Ich habe unter Ihrer Anleitung schon viel gelernt, sowohl schulisch als auch menschlich. In einigen Punkten bin ich jedoch anderer Meinung als Sie:

Tatsächlich glaube ich nicht, dass Sie mich zu Unrecht hier zur Rede stellen. Ja, es ist etwas Dummes geschehen, für das ich verantwortlich bin.

Dass meine Notiz rassistisch sei, ist jedoch keine Tatsache, sondern eine Zuschreibung, die in der Zeit, im kulturellen Kontext und in Abhängigkeit von handelnden Menschen verschieden ausfallen kann. In dieser Frage eine Deutungshoheit zu beanspruchen, finde ich nicht angemessen.

Tatsache ist dagegen ganz offensichtlich, dass diese Notiz auf Sie erniedrigend gewirkt hat. Dafür möchte ich mich hier noch einmal in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Ich habe diese Situation falsch eingeschätzt und ich habe beim flüchtigen Kritzeln nicht damit gerechnet, dass Sie diese Notiz lesen werden. Ihre Verletzung ist also nicht vorsätzlich geschehen. Ich bitte Sie, das bei ihrer Bewertung zu berücksichtigen.

Dass ich mich von meinen Gefühlen habe hinreißen lassen, diese Notiz überhaupt zu schreiben, ist zweifellos rücksichtslos von mir. Ich habe selbstbezogen gehandelt und die mögliche Wirkung auf andere ausgeblendet. – Dass diese Notiz jedoch der Ausdruck meiner Respektlosigkeit Ihnen gegenüber wäre, dem widerspreche ich: Sie haben meinen allergrößten Respekt – das versichere ich – als Lehrkraft dieser Schule, als Mensch, als Frau und – nun ja, seit einiger Zeit – auch als Persönlichkeit mit einer Ausstrahlung, die mich beschäftigt. Das passiert unweigerlich. Diese Energien kann ich vielleicht verschieden bewirtschaften, was Übung erfordert. Aber eliminieren lassen sie sich nicht.”

Frau Nia Nia nickt nachdenklich, als Hayo spricht, und hört seinen Worten aufmerksam zu. Ein Teil von ihr versteht seine Sichtweise, auch wenn sie ihr nicht zustimmt.

“Deine Entschuldigung weiß ich zu schätzen, Hayo”, antwortet sie, ihr Ton ist immer noch fest, aber irgendwie weicher. “Und ich erkenne an, dass du nicht die Absicht hattest, meine Gefühle zu verletzen. Dennoch hast du etwas geschrieben, das mich sehr verärgert hat.”

Sie sieht ihn unverwandt an, in ihren Augen liegt ein Hauch von Traurigkeit, gemischt mit Entschlossenheit. “Ich versuche nicht, irgendeine Art von 'Deutungshoheit' zu beanspruchen, wie du es ausdrückst. Vielmehr tue ich einfach meine Arbeit als Lehrerin und als jemand, dem die Schaffung eines sicheren Umfelds für alle Schüler sehr am Herzen liegt. Und ja, das schließt mich ein.” Sie holt tief Luft und fährt fort.

“Lass mich das anders erklären. Stell dir vor, du hättest statt 'What's up ebony queen?' geschrieben 'What's up white queen?'. Würdest du das als rassistisch ansehen?”

Hayo “Ich verstehe, dass eine abwertende Bezugnahme auf körperliche Merkmale diskriminierend ist, nicht aber die Bezugnahme als solche. Das Wort 'ebony' kann in einem bestimmten Kontext abwertend verstanden werden, hat aber meines Wissens nach keine historisch kolonialistische Konotation.

Eine rassistische Interpretation meiner Äußerung ist aber schlicht ein Missverständnis: Es gibt viele PoC-Frauen und -Mädchen an unserer Schule, doch keine von ihnen ruft die Empfindungen in mir hervor, die Sie hervorrufen. Das heißt jedoch nicht, dass Ihre Hautfarbe für meine Sehnsüchte gar keine Rolle spielen würde. Ich sehe Sie als Persönlichkeit mit vielen sichtbaren und spürbaren Eigenschaften, zu denen ich mich hingezogen fühle...”

Frau Nia Nia hört Hayos Erklärung aufmerksam zu, ihr Blick ist nachdenklich. Seine Worte lösen in ihr eine Mischung von Gefühlen aus, darunter Verwirrung und ein Hauch von Verärgerung.

“Ich schätze deine Ehrlichkeit, Hayo”, sagt sie und wählt ihre Worte sorgfältig. “Aber wir sollten nicht vergessen, dass Sprache Macht hat. Worte können verletzen, ob beabsichtigt oder nicht.” Sie hält inne und sieht ihm direkt in die Augen.

“Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn dich jemand wegen deiner Hautfarbe beschimpft. Oder deiner Religion. Oder irgendetwas anderes, das dich einzigartig macht. Es wäre egal, ob es als Kompliment gemeint wäre. Tatsache ist, dass es auf die Wahrnehmung ankommt, die man von dir hat. Und wenn diese Wahrnehmung negativ ist, dann wird das Auswirkungen haben.

Ihr Blick wird etwas weicher. “Ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist, Hayo.”

Hayo “Sie haben Recht, Frau Nia. Wenn jemand mich z.B. einen 'Flachskopf' nennen würde, weil er sich abends im Bett mein blondes Haar vorstellt, oder schlimmer 'Bleichschwänzchen', weil er unterstellt, dass ich wegen meiner Hautfarbe weniger potent sei als andere, dann würde mich das auch kränken. Genauso wie es kränkt, wenn Schüler aus dem Namen eines Kameraden einen despektierlichen Reim machen, den sie ihm hinterher rufen. Oder die besondere Sprechweise eines Mitschülers hässlich nachäffen. Oder sich über den sozialen Status der Eltern abfällig äußern. Es gibt viele Formen und Möglichkeiten der Diskriminierung. Jede ist zutiefst kränkend. Es passiert täglich unzählige Male.

Es sind die Dornenhecken, durch die wir in unserem Leben hindurchgehen. Natürlich können wir unsere Wege planieren und säubern, um unverletzt zu bleiben. Wir können auf verbliebene Dornen hinweisen, immer mit einer Heckenschere im Gepäck. Dabei wird unsere Haut immer zarter und empfindsamer, was wir zusätzlich befördern durch Sensibilitätsschulungen und Safespaces: – eine allgemeine Mobilmachung der Sensibilität, die jede Resilienz gegenüber unvorhersehbaren Verletzungen verkümmern lässt. Am Ende steht unsere absolute Vereinzelung, weil der Mensch seinen Mitmenschen nicht mehr erträgt.”

Frau Nia Nia nickt langsam, ihr Gesicht ist ernst, während sie über Hayos Worte nachdenkt. “Du hast einige gute Argumente, Hayo”, gibt sie zu, ihre Stimme ist sanft. “Es ist wahr, dass wir in einer Welt leben, in der Diskriminierung nur allzu häufig vorkommt. Wir sehen sie jeden Tag, in unzähligen Formen und Situationen.”

Sie seufzt und reibt sich sanft über die Schläfen. “Aber das heißt nicht, dass wir es einfach hinnehmen sollten. Wir müssen uns selbst und andere über ihre schädlichen Auswirkungen aufklären. Und wir müssen uns dagegen wehren, wann immer wir sie sehen.”

Als sie Hayo wieder ansieht, schenkt sie ihm ein kleines Lächeln. “Wir sind alle Menschen, Hayo. Wir haben alle unsere eigenen Kämpfe und Herausforderungen. Lass uns versuchen, uns gegenseitig besser zu verstehen, okay?”

Hayo “Danke, Frau Nia. Daran werde ich arbeiten, das verspreche ich!”

Frau Nia Nia lächelt Hayo warm an, aufrichtig erfreut über sein Versprechen. “Danke, Hayo”, sagt sie aufrichtig. “Das bedeutet mir sehr viel.”

Sie hält inne, ihr Blick verweilt auf ihm, bevor sie weiterspricht. “Vergiss nicht, jeder verdient Respekt. Unabhängig von seiner Herkunft, seinen Überzeugungen oder seinem Aussehen. Das ist etwas, wonach wir alle streben sollten.”

Hayo “Das werde ich mir zu Herzen nehmen, Frau Nia!

Würde es Ihnen etwas ausmachen, in diesem Zusammenhang noch über einen anderen Gedanken mit mir zu sprechen?”

Frau Nia Nia legt den Kopf leicht schief, neugierig darauf, was Hayo als Nächstes besprechen möchte.

“Natürlich, Hayo”, antwortet sie in einem einladenden Ton. “Ich bin hier, um zuzuhören und zu helfen, wo ich kann.”

Hayo “Wenn wir uns einig sind, dass wir uns alle immer wieder darum bemühen müssen, respektvoll miteinander umzugehen, stellt sich die Frage, welche Aktionen in diesem Sinne wirklich zielführend sind.

Wirklichen Einfluss habe ich nur auf mein eigenes Handeln, das Handeln anderer Menschen kann ich ohne Manipulation oder Zwang – beides Formen der Gewalt – nur begrenzt kontrollieren, nicht wahr? Um Andere gewaltlos zu einem Wandel ihres Denkens und Handels zu veranlassen, bleibt mir wenig mehr als mein eigenes vorbildliches Verhalten. Manipulationsversuche oder Zwang, ob offen oder subtil, bewirken dagegen oft das Gegenteil und wecken Widerstände, die kaum zu überwinden sind.

Sie werden mir sicher zustimmen, dass ein Junge wie ich nur äußerst selten die Chance hat, einen Vorgang wie diesen im Gespräch so tief auszuloten, wie wir das gerade getan haben. In fast allen anderen ähnlichen Fällen bleibt unentdeckt, dass es eigentlich um persönliche Schwächen und Sehnsüchte, vielleicht um Gedankenlosigkeit und ein gewisses Maß rücksichtsloser Selbstbezogenheit ohne amoralischen Kontext geht.

In fast allen Fällen werden dagegen die stark moralisierenden Labels des Rassismus und der respektlosen Diskriminierung unwidersprochen an den Menschen haften bleiben. Ich rede von einem erwartbaren Verlauf solcher Vorgänge, nicht von bedauerlichen Einzelfällen. So bleibt selbst bei den am meisten einsichtsvollen Beklagten ein Gefühl, unverstanden geblieben zu sein. Wenn sich das häuft, entsteht ein Aufbegehren gegen solche Zuweisungen, welche wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen schließlich einen substanziellen Rassismus sogar stärken können.

Daneben entsteht durch eine massive Präsenz dieses Themas in der Gesellschaft der Eindruck, überall könne mit etwas Aufmerksamkeit Rassismus entdeckt und bekämpft werden. Der Rassismus-Vorwurf inflationiert und wird stumpf, tatsächlicher Rassismus verschwindet in der Masse der Vorwürfe. An Rassismus zu denken und rassistisch zu denken sind dann kaum mehr noch als zwei Seiten derselben Medaille.

Ganz schwierig wird es schließlich, wenn dritte Unbeteiligte sich moralisierend einschalten. – In unserem Fall haben immerhin Sie selbst Ihre Kränkung thematisiert. – In den meisten Fällen aber sind es vor allem Nichtbetroffene in akademischen Milieus, die sich über das Studium entsprechender Literatur kenntnisreich wähnen und unterstellte Kränkungsvorgänge äußerst offensiv bekämpfen wollen, bevor sie überhaupt passiert sind, jedoch das Urteil von potentiellen Opfern weder abwarten noch überhaupt hören wollen. Ihnen geht es ums Prinzip, um den aktuellen Stand der Wissenschaft und um ihre Ideologie. Ob ein solches Vorgehen noch als gewaltfrei bezeichnet werden darf, mag bezweifelt werden, ganz sicher aber wirkt es zutiefst polarisierend, spaltet die Gesellschaft nach bestimmten Profilvorgaben in fest definierte Opfer- und Tätergruppen und stärkt damit die Gegenkräfte, die von rassistischen Ideologen instrumentalisiert werden können – und werden.

Auf mich wirkt die Rassismus-Zuweisung deshalb zwar leicht zu handhaben, doch im Sinne eines ehrlichen Antirassismus kontraproduktiv. Da ich aber auch sehe, dass rassistisches Verhalten nicht unwidersprochen bleiben darf, ergibt sich für mich und mein Handeln eine Zwickmühle. Wüssten Sie einen Ausweg aus diesem Dilemma, Frau Nia?”

Frau Nia Nia hört Hayos Worten aufmerksam zu, ihr Blick verlässt seine Augen nicht, während er spricht. Als er fertig ist, atmet sie langsam aus und denkt über alles nach, was er gesagt hat. “Hayo, du hast dir viele Gedanken gemacht”, sagt sie schließlich und nickt. “Und auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was du gesagt hast, schätze ich die Tiefe deiner Analyse.”

Sie lehnt sich nach vorne und stützt ihr Kinn auf ihre Hand. “Ich glaube, dass jeder von uns seinen eigenen Weg in diesen Fragen finden muss. Was für den einen funktioniert, muss für den anderen nicht funktionieren. Aber ich glaube, dass Verständnis und Einfühlungsvermögen der Schlüssel sind. Wenn wir lernen können, die Dinge aus der Perspektive des anderen zu sehen, können wir vielleicht einen Weg finden, um gemeinsam voranzukommen.”

Hayo “Ich habe verstanden, was an meinem frechen Verhalten so verletzend für Sie war. Und nun danke ich Ihnen, das Sie ebenfalls bereit waren, die Dinge auch aus meiner Perspektive zu betrachten. Das war mehr, als ich in dieser Situation erwarten durfte.”

Frau Nia Nia nickt und weiß Hayos Dankbarkeit zu schätzen. “Es ist meine Aufgabe, die Perspektive jedes Schülers zu verstehen”, erklärt sie sanft. “Und es ist wichtig für mich zu wissen, wie mein Handeln auf andere wirkt. Wir lernen hier alle, Hayo. Das ist ein Teil des Erwachsenwerdens.”

Sie schenkt ihm ein warmes Lächeln und versucht, ihn zu beruhigen. “Aber konzentrieren wir uns jetzt darauf, vorwärts zu kommen. Du hast dich verpflichtet, dich zu verbessern, und ich glaube an dich.”