9-Euro-Ticket: Eine Prognose

Im Juni soll für drei Monate das 9-Euro-Ticket für den Regionalverkehr kommen. Hier ist meine persönliche Prognose für diese drei Monate:

Überfüllte Züge und der K(r)ampf um mehr Kapazitäten

Zunächst einmal werden auf so manch einer Strecke Regionalzüge hoffnungslos überfüllt sein. Dagegen wird DB Regio wenig tun können.

Lokbespannte Züge ließen sich noch am ehesten ein Stück weit verlängern. Dafür haben das Stillstandsmanagement und auch DB Gebrauchtzug noch einiges an Doppelstockwagen herumstehen. Ich rechne damit, daß die zu einem großen Teil reaktiviert werden.

Addendum: Bis ins Unermeßliche verlängern kann man Züge sowieso nicht. Laut Eisenbahn-Betriebsordnung dürfen Reisezüge nicht an Bahnsteigen halten, die kürzer sind als der Zug, wo also nicht alle Türen am Bahnsteig zum Stehen kommen. Zwischen Hamburg und Rostock sind nun beispielsweise die Bahnsteige genau auf die Länge modernisiert worden, die für die 5-Wagen-Züge gebraucht wird, die da jetzt fahren. Verlängert man die Züge jetzt auf die eigentlich normalerweise maximal erlaubten 15 Wagen, dürften sie zwischen Hamburg Hbf und Rostock Hbf nirgendwo mehr halten. Selbst in Schwerin müßten sie durchfahren.

Problematisch wird’s zunächst einmal bei Wendezügen. Es hat noch keiner versucht, 15-Wagen-Doppelstockzüge mit 140 oder 160 km/h zu schieben. Andererseits ist das eigentlich wieder irrelevant, denn wenn man tatsächlich Doppelstock-REs auf maximale Bahnsteiglänge verlängert, geht das Leistungsgewicht in die Höhe, und man braucht eh eine zweite Lok. Nun hat DB Regio aber nicht von jeder Baureihe beliebig große Reserven herumstehen und wird einiges kurzfristig anmieten müssen.

Das wird am häßlichsten auf Verbindungen, die nicht elektrifiziert sind, aber soviel Verkehrsaufkommen haben, daß lokbespannt gefahren wird. Für die Marschbahn zwischen Hamburg und Westerland wird DB Regio wohl alles an reisezugtauglichen Dieselloks zusammenkratzen, was sie bekommen können, um dann gerade an Wochenenden viele REs auf der Route mit zwei Loks und elf Doppelstockwagen (länger sind die Bahnsteige in Westerland nicht) im Sandwich zu fahren. Einen Großteil der Verkehrslast werden die letzten in Deutschland noch betriebsfähigen 218 stemmen müssen, die auf dieser einen Strecke reihenweise aufgerieben werden.

Auf anderen Strecken wird der Durchgangsverkehr zum Problem. Wo DB Regio fährt, ist es noch relativ einfach, sofern man noch genügend Verstärkungswagen und evtl. Leihloks bekommt. Die Metronom-Züge der LNVG Niedersachsen südlich von Hamburg werden auf größere Probleme stoßen, denn da gibt es keine großen Fahrzeugreserven, und viele Doppelstockwagen zum Anmieten gibt es auch nicht.

Mietlokomotiven mit Ausstattung und Zulassung für Reisezüge werden schnell knapp werden, weil etliche lokbespannte Regionalexpresse mit jeweils zwei Loks gefahren werden müssen, eine an jedem Ende. Wie gesagt, zum einen würde ein RE, der von Normallänge von vier bis sechs Wagen aufs Gardemaß von 15 Wagen verlängert würde, sonst viel langsamer beschleunigen und bei seinen vielen Zwischenhalten viel Zeit verlieren. Zum anderen würde das Eisenbahn-Bundesamt Schnappatmung bekommen, wenn es sieht, wie eine Lok 15 schwere Doppelstockwagen mit 160 km/h durchs Land schiebt. Und nicht immer ist es möglich, am Ende der Fahrt die Lok umzusetzen. Also muß eine an jedes Ende.

Generell werden viele Passagiere in lokbespannten Zügen sauer sein. Die Doppelstockwagen von DB Regio pfeifen jetzt schon zum großen Teil aus dem letzten Loch; die Wagen, die reaktiviert werden müssen, sind vermutlich noch schlimmer dran.

Wahrscheinlich werden wir viele Verstärkungswagengruppen oder gar Zusatzzüge sehen, die aus von Eisenbahntouristikunternehmen wie Euro-Express oder der Centralbahn angemieteten alten Schnellzugwagen bestehen. DB Regio könnte alternativ auch IC-Wagen von DB Fernverkehr aus dem Stillstandsmanagement anmieten und 1.-Klasse-Wagen zur 2. Klasse herabstufen, wenn es gar nicht anders geht. Ich rechne sogar mit ausländischen Wagen, z. B. aus Österreich und Tschechien, wo der Trend weg von klassischen lokbespannten Zügen hin zum Railjet geht, aber noch reichlich Altmaterial herumsteht.

Mit Triebwagen wird’s noch häßlicher. Gerade im Regionalverkehr gibt’s ja etliche verschiedene Typen von etlichen verschiedenen Herstellern. Und jeder davon ist jeweils nur mit sich selbst kuppelbar. Häufig sind Fahrzeuge derselben Bauart bzw. Fahrzeugfamilie von verschiedenen Eisenbahnverkehrsunternehmen nicht kuppelbar oder auch aus verschiedenen Generationen. Züge, die als Triebwagen gefahren werden, können also nicht mit beliebigem Rollmaterial verlängert werden.

Unterm Strich spielt das aber auch keine Rolle, denn gerade DB Regio hat bei Triebwagen kaum Reserven. Die Bombardier-TWINDEXX-Doppelstockgarnituren, die von Hamburg nach Kiel und Flensburg fahren, sind exakt in der Stückzahl beschafft worden, die für den Planverkehr gebraucht werden. Bei Verkehrsspitzen sind die Züge dann eben proppevoll, und wenn mal ein Fahrzeug ausfällt, muß DB Regio eben sehen, wie sie einen kompletten Ersatzzug zusammengestellt bekommen.

Ironie des Schicksals: Zwischen diesen Triebwagen fahren im Prinzip ganz normale Doppelstockwagen. Theoretisch müßte es möglich sein, diese vierteiligen Garnituren zu verlängern, während man alle anderen deutschen Triebwagenbauarten nicht mit ganz normalen Reisezugwagen verstärken kann. Aber wahrscheinlich sind die Triebwagen weder zugelassen für mehr als zwei Mittelwagen noch für andere Wagen als die, die jetzt in den Zügen fahren.

Umgekehrt wird Flixmobility drei Monate lang leere Züge spazierenfahren. Und leere Busse. Ich würde ja lachen, wenn Flixmobility die Flixtrains Mitte Juni mangels Auslastung bis Anfang September einstellen und das Rollmaterial an andere Eisenbahnverkehrsunternehmen als Verstärkungsfahrzeuge vermieten würde, weil das mehr einbringt.

Ahnungslose Passagiere, die sonst nie mit dem Zug fahren

Und dann sehe ich da jede Menge Fehlverhalten von Passagieren, die mit dem Zugfahren null Erfahrung haben. Viele werden zum ersten Mal überhaupt in eine Zug einsteigen – zumindest zum ersten Mal seit ihrer Schulzeit, wo sie vielleicht mal mit der Bahn auf eine Klassenfahrt gefahren sind. Und das war womöglich noch zu Bundesbahnzeiten – die Bundesbahn hörte übrigens vor gut 28 Jahren auf zu existieren.

Aus jedem Fernzug – ICE, Intercity, Eurocity, Thalys, Railjet, Nightjet, whatever – wird mindestens einmal ein Passagier mit 9-Euro-Ticket rausgeworfen werden. Entweder hat derjenige den Teil mit „Regionalzüge“ überlesen bzw. nicht bemerkt. Oder derjenige hat schlicht und ergreifend nicht den leisesten Hauch der Ahnung von Zuggattungen und weiß auch nicht, daß es einen Unterschied zwischen Fern- und Regionalzügen gibt.

So manch ein älterer Passagier, der spätestens seit seinem 18. Geburtstag irgendwann in den 70ern nicht mehr mit dem Zug gefahren ist, wird sich beim Rauswurf aus einem ICE darüber beschweren, daß das alles so kompliziert sei und es zu „seiner Zeit“ „nur Züge“ gegeben habe, also keine Zuggattungen. Zu „seiner Zeit“ wäre er aber mit einer simplen 2.-Klasse-Fahrkarte auch rausgeworfen worden aus einem TEE, der nur die 1. Wagenklasse führte und obendrein Zuschlag kostete. Abgesehen davon: Zu „seiner Zeit“ wußte jeder, daß man in die rot-beigen Züge ohne 1.-Klasse-Ticket nicht reinkommt.

Mit den Rauswürfen werden sich natürlich auch Verspätungen anhäufen, wenn man sich entscheidet, den „blinden Passagier“ nicht bis zum nächsten regulären Halt mitzunehmen (das käme ihm womöglich noch entgegen), sondern ihn unterwegs schon des Zuges zu verweisen. Dann stoppt der Thalys aus Paris hinter Aachen eben in Düren, um jemanden rauszuschmeißen, der mit einem 9-Euro-Ticket bis Köln weiterfahren wollte.

So oder so werden diese Leute natürlich zur Kasse gebeten: Ungültiger Fahrschein = 60 Euro.

Natürlich wird es auch viele geben, die sich in die 1. Klasse pflanzen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Sofern die 1. Klasse durch das Zugpersonal für 2.-Klasse-Passagiere freigegeben wird, weil die 2. Klasse hoffnungslos überfüllt ist, geht das ja noch.

Aber es dürfte genügend Leute geben, die entweder die 1. Klasse aus purer Ignoranz und Merkbefreitheit überhaupt nicht als solche identifizieren oder überhaupt nicht wissen, daß es in Zügen mehrere Wagenklassen gibt und das 9-Euro-Ticket nur in der 2. Klasse gilt.

Ich warte schon auf die ersten, die vom Personal oder gar von der Bahnpolizei mit einem 9-Euro-Ticket aus einem Schlafwagenabteil geholt werden, in das sie sich eigenmächtig gepflanzt haben – weil sie dachten, das sei ein ganz normales Zugabteil wie alle anderen auch, weil sie nicht wissen oder nie darauf achten, wie Züge normalerweise von innen aussehen.

Radfahrer werden sich mitsamt Fahrrädern in jeden x-beliebigen Einstiegsraum pressen, und sei es der eines Abteilwagens aus den 60ern. Zum einen werden sie nichts davon wissen, daß das 9-Euro-Ticket keine Fahrradmitnahme beinhaltet. Zum anderen werden sie nichts davon wissen, daß es separate Fahrradabteile gibt, geschweige denn wo. Hauptsache rein in den Zug und erst am Endbahnhof wieder raus.

Schnorrer und das 0-Euro-Ticket

Und dann wird es natürlich die geben, die selbst diese neun Euro nicht aufbringen wollen – oder können –, aber trotzdem unbedingt mit dem Zug fahren wollen.

Das 9-Euro-Ticket ist nicht übertragbar. Es ist nur gültig, wenn man es unterschreibt, und dann ist es nur für einen selbst gültig. Das traf aber auch aufs Schönes-Wochenende-Ticket zu, als es das noch gab. Und auch da gab es regelmäßig schon ab Samstagnachmittag die Schnorrer, die jeden, aber auch jeden Passagier auf ein kostenloses Wochenendticket angehauen haben. An dieser Stelle sei erwähnt, daß Betteln auf deutschen Bahnhöfen verboten ist.

Das wird mit dem 9-Euro-Ticket nicht anders sein. Und da wird das Betteln schon früh losgehen. Die Schnorrer werden nicht bis zum Monatsende warten, wenn mehr und mehr Leute ihr Ticket nicht mehr brauchen, weil sie das eh nur für eine bestimmte Tour gekauft haben. Nein, sie werden schon an den ersten Tagen losziehen nach dem Motto: „Schenk mir dein 9-Euro-Ticket und kauf dir dann eben ein neues, du hast es ja.“

Schon früh werden auch Zugbegleiter in Regionalzügen Passagiere aus dem Zug schmeißen, weil sie sich mal die Mühe gemacht haben, neben dem 9-Euro-Ticket auch deren Ausweis zu kontrollieren – und feststellen mußten, daß das Ticket gar nicht auf denjenigen ausgestellt ist. Wenn das lange und oft genug passiert, geht an den Bahnhöfen die Bettelei nach neuen 9-Euro-Tickets ohne Unterschrift los.

A propos, es dürfte auch die ganz Schlauen geben, die ihr Ticket nicht unterzeichnen, um es hinterher weiterverkaufen zu können. Zum vollen Preis. Wenn die dann aber kontrolliert werden, haben sie die Wahl: Entweder sie setzen vor den Augen des Zub ihren Friedrich Wilhelm aufs Ticket, oder sie fliegen beim nächsten Halt aus dem Zug + 60 Euro Strafe wegen ohne gültiges Ticket.

Mal sehen, wer doof genug ist zu versuchen, 9-Euro-Blankotickets überm Preis zu verkaufen, weil die angeblich knapp sein sollen (werden sie nie sein).

Und dann rechne ich mit denen, die sich ans Wochenendticket erinnert fühlen und glauben, auch das 9-Euro-Ticket sei eine Gruppenkarte. Die werden ohne jegliches Ticket in den Zug einsteigen und während der Fahrt versuchen, bei jemandem auf dem Ticket mitzufahren. Das gab es ja schon zu Zeiten des Wochenendtickets – und war der Grund, warum auf dem Wochenendticket alle Passagiere unterzeichnen mußten.

Das Angenehme zum Schluß

Eins wird aber schön: In den Zügen des Fernverkehrs wird es ruhiger. Klar, auf jeder Tour wird es mindestens einen Passagier geben, der sich mit dem Personal streitet, weil er in einem Fernzug mit einem 9-Euro-Ticket angetroffen wurde und nicht einsieht, warum das falsch ist. Aber ein Großteil der Passagierhorden wird aus purem Geiz auf den Regionalverkehr ausweichen.

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