Digitalisierung: Tempo raus

Viele, auch viele Datenschutz-Nerds, geben das Narrativ wieder, es müsse schneller vorangehen mit der Digitalisierung.

"How Does Digital Technology Affect You?" by schopie1 is licensed under CC BY-SA 2.0

Tempo bei der Digitalisierung klingt gut. Wir lästern über die Faxgeräte in den Behörden, dabei gehen die mit etwas Glück über Ende-zu-Ende-verschlüsselte IP-Telefonleitungen. Im Gegensatz zum überwiegenden Anteil der Mails. Zu Corona-Hochphasen hätten wir uns leistungsfähigere Hard- und Software für Homeoffice der Lohnabhängigen, Schüler.inn.en und Lehrer.inn.en gewünscht. (Nicht falsch verstehen: Für mich ist eigentlich immer noch Corona-Hochphase. Aber das ist ein anderes Thema.)

Aber jetzt mal ernsthaft: Sind wir so weit? Jedes neue Medium verlangt eine kulturelle Anpassungs- und Aneignungsleistung von uns Menschen als Gesellschaften bzw. Gruppen. Jeder neue Träger von Information und Unterhaltung war zunächst elitär und wurde zur Überwachung, Ausgrenzung, zur effektiveren Machtausübung und Propaganda und zum effektiveren Handel eingesetzt. Heutzutage sind wir weitgehend alphabetisiert, Bücher sind Massenmedien. Aber ernsthaft drüber nachgedacht: Können wir vernetzte Computer lesen, wie wir Bücher, Zeitschriften und Zeitungen zu lesen gelernt haben?

Ja,sehr viele Menschen fordern, dass die Menschenrechte bei der IT-Nutzung eingehalten werden, vor allem da, wo wir zur IT-Nutzung gezwungen sind. Aber das Machtgefälle vergrößert sich immer mehr. Die Computernetze werden immer effektivere Werkzeuge für die Ausbeutung, Überwachung und Machtausübung. Öffentliche Infrastruktur wird immer angreifbarer. Autos und Büros sind verwanzt. Unser Leben wird auf die IT ausgerichtet, ohne Diskussion, oder besser: schneller als die Diskussion darüber, wie stark und in welche Richtung, unter welchen Rahmenbedingungen wir das wollen. Um hier auf Augenhöhe zu diskutieren, eigentlich, den Machtkampf aufzunehmen, bräuchten wir viel mehr Zeit.

Ein ernsthaft demokratischer Staat würde sich an der digitalen Alphabetisierung beteiligen, würde Medienkompetenz in Lehrpläne von allgemeinbildenden, Hoch- und Volkshochschulen aufnehmen in einer Art, die das Lernziel Medienkompetenz auch erreichen lässt. Leider ist es weitgehend Ehrenamt und NGOs überlassen, sowohl technisches Grundwissen als auch, und das besonders, Wissen über den sicheren, emanzipierten Gebrauch der Netze und Geräte zu vermitteln. Dafür werden wir noch angefeindet, behindert, in extremistische Ecken gestellt. Sicherheit und Datenschutz seien nur ernsthaft zu haben als Produktbestandteil kommerzieller Produkte, wird suggeriert. Gerade die gestern wieder vergebenen Big Brother Awards belegen jedes Jahr an eindrücklichen, gut ausgewählten Beispielen, dass mit diesem Vorgehen der Bock zum Gärtner gemacht wird.

Es läuft also auf einen Machtkampf hinaus. Behalten wir gesellschaftlichen Einfluss auf Computernetze, nutzen wir sie zum menschenrechts- und menschengerechten Informationsaustausch, zur klimagerechten Energiesteuerung, zur sicheren Rationalisierung, zum kulturellen, grenzenlosen Austausch? Oder müssen wir uns bald in der Arztpraxis mit einem hochgebührenpflichtigen Microsoft-Konto über die Krankenversicherungskarte als Token anmelden?

Für solche Kämpfe brauchen wir Zeit, weil wir der geballten strukturellen Macht nur eines entgegensetzen können: Masse. Wir können nur mit den Füßen effektiv abstimmen. Effektiv meint hier, mit nennenswerter Wirkung. Wohlfeiles Reden hilft nicht, und dass wir turnusmäßig an Urnen unsere Stimme beisetzen, äh, abgeben, hat angesichts der starken Strukturen und Lobbys auch nicht allzu viel Wirkung. Und solches Organizing im Ehrenamt, neben Job, Familie und einfach mal Leben, das dauert.

Aber selbst, wenn wir das friedlich und demokratisch aushandeln würden, es ist nicht leicht, den richtigen Weg mit neuen Medien zu finden und dann auch umzusetzen. Zumal die aktuelle digitale Revolution eine sehr umfassende ist. Wir Menschen sind evolutionär für IT noch gar nicht bereit. Unsere Psyche und Physis kann damit noch gar nicht umgehen.