Das Tandem

Yvonne und Herbert (Namen geändert) sind ein Paar. Gemeinsam besitzen sie ein Tandem, mit dem sie oft unterwegs sind. Beim Fahren an der frischen Luft haben sie viel Spaß und genießen regelmäßig ihren gemeinsamen Takt und die Abwechslung, die dadurch entsteht, dass sie untereinander häufig die Fahrpositionen wechseln. Einmal lädt Yvonne eine Freundin zu einer Spazierfahrt ein. Yvonne führt das Rad auf eine ihrer Lieblingstouren durch ein zerklüftetes Seengebiet mit Stegen, Brücken und einigen aufregenden landschaftlichen Ausblicken. Auf der Strecke fragt die Freundin Yvonne beiläufig, wer in ihrer Partnerschaft denn das Ziel der Fahrt vorgibt, wenn sie mit dem Tandem gerade nicht zu einem gemeinsamen Termin unterwegs sind. Yvonne ist verblüfft. Darüber hat sie noch nie nachgedacht. Sie meint, das sei von Fall zu Fall verschieden und ergebe sich eher zufällig. An den Zufall will die Freundin nicht recht glauben und fragt weiter: “Du fährst also auch mit, wenn dein Mann das Ziel der Fahrt vorgibt?” Der Tonfall macht Yvonne verlegen. Achselzuckend bejaht sie die Frage. In leisen und freundschaftlichen Worten gibt die Freundin zu bedenken, dass ganz allgemein über viele Jahrhunderte Männer diejenigen waren, die sich anmaßten, Frauen vorzugeben, wo es hingehen soll. Deshalb sollte eine Frau im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptieren, bedenkenlos den Vorgaben eines Mannes zu folgen. Yvonne will das Thema an diesem Nachmittag nicht weiter vertiefen, nimmt sich aber vor, in nächster Zeit einmal darauf zu achten, wie bei ihren Tandemfahrten die Auswahl von Strecken und Zielen zwischen ihrem Mann und ihr zustande kommt.

Und tatsächlich: nach einer Zeit der Beobachtung lässt sich nicht leugnen, dass bei ihren gemeinsamen Touren ihr Mann seine Streckenvorschläge häufiger als sie selbst an der vorderen Position umsetzt. Als es wieder einmal dazu kommen soll, stellt sie ihn diesbezüglich zur Rede. Herbert ist überrascht. Bisher hatte er seine Frau mit seinen kreativen Strecken immer begeistern können. Natürlich überlässt er ihr die Führung für diese Tour. Als es in nächster Zeit häufiger zu solchen Diskussionen kommt, macht Herbert einen Vorschlag: “Meine Liebste! Mit dir gemeinsam unterwegs zu sein, ist mir beim Tandemfahren wichtig, Ziele und Wege sind mir dagegen ziemlich egal. Was hältst du davon, wenn du künftig unsere Touren planst und sagst, wo es langgehen soll? Im Gegenzug lässt du mich an der vorderen Position fahren, damit ich das Gefühl haben kann, mit dir gemeinsam und doch selbstbestimmt unterwegs zu sein. Was hältst du davon?” Diesen Vorschlag findet Yvonne akzeptabel. Fortan sind sie wieder fröhlich gemeinsam unterwegs und Yvonne findet von Mal zu Mal mehr Freude daran, ihre Streckenplanung abwechslungsreich und überraschend auszugestalten. Bald ist für sie die Planung der Touren ebenso erfüllend wie die Touren selbst. Und Herbert ist beeindruckt von den Strecken, die sie auf diese Weise neu entdecken.

Einige Zeit später trifft sich Yvonne zum “Mädelsnachmittag” in einem Café der Altstadt. Auch ihre Freundin ist wieder mit dabei. Sie fragt Yvonne nach ihren Tandemtouren: “Hey sag mal, immer wenn man euch radeln sieht, führt dein Mann die Tour an. Hast du mal darüber nachgedacht, worüber wir vor einiger Zeit gesprochen haben? Oder hast du bei euch überhaupt nichts zu melden?” Yvonne erwidert: “Nein, meine Liebe, so ist das nicht!” Und sie erzählt von der Verabredung zwischen ihrem Mann und ihr und wie gut sich das eingespielt hat. Es entsteht eine kurze Pause. Die nutzt eine anderen Freundin, um sich einzuschalten: “Mensch Yvonne, hast du mal überlegt, was das nach außen für eine Botschaft aussendet? In dieser Stetigkeit, mit der man deinen Mann in letzter Zeit vorn auf dem Fahrrad sieht, ist das einfach das falsche Signal. Andere Frauen und Mädchen, die von eurer Verabredung nichts wissen, können leicht das Gefühl bekommen, es gehöre sich in einer Partnerschaft, dass der Mann das Lenkrad führt, und die Frau müsse sich hinter ihm fügen. Das kann nicht dein Ernst sein!” Nun ist auch die erste Freundin wieder bei der Sache: “Im Übrigen ist die Gestaltungsmacht von der hinteren Position aus – so sicher dir eure Verabredung auch scheint – niemals eine echte Autorität, sondern nur eine dir von deinem Mann erteilte Autorisierung. Die kann er dir jederzeit ohne weitere Verhandlung entziehen, indem er einfach woanders hinfährt.” Eine dritte Freundin nickt nachdrücklich: “Eine geliehene Macht ist gar keine Macht. Du solltest bei euren Touren darauf bestehen, dass die vordere Postion zwischen euch paritätisch besetzt wird. Was bist du doch für eine Naive. Wenn wir uns nicht um dich kümmern, kommst du noch unter die Räder des Patriarchats!” Alle kichern. Yvonne kichert, halb verlegen, halb dankbar, mit.

Bei ihrer nächsten gemeinsamen Tandemtour mit Herbert möchte Yvonne vorn fahren. Herbert ist einverstanden. In der Küche hängt Yvonne eine Tabelle an die Kühlschranktür, in die sie zuverlässig einträgt, bei welcher Tour wer von den Beiden das Lenkrad des Tandems geführt hat. Bald ist anhand der Tabelle deutlich abzulesen, wer – der Parität wegen – als nächstes den vorderen Platz beanspruchen darf. Kommt es zu Abweichungen, sorgt Yvonne dafür, dass diese zeitnah ausgeglichen werden. Zu Diskussionen kommt es dabei nicht mehr. Allerdings möchte Herbert für die Touren, bei denen er am Lenkrad sitzt, nun auch wieder Wege und Ziele vorgeben. Darüber gibt es Streit. Yvonne möchte, dass Herbert einsieht, dass Frauen sich viel zu lange nach männlichen Vorgaben richten mussten und noch immer gesellschaftlich benachteiligt sind. Und sie erwartet von ihm, dass sich diese Einsicht in seinem Zugeständnis, ihr die Routenplanung weiterhin zu überlassen, als ein Beitrag, die Welt gerechter zu machen, zeigt. Wenn er hier Parität erwarte, zeuge das von einem mangelnden Problembewusstsein und wäre letztlich ein Beitrag, alte patriarchale Konzepte zu konservieren. Herbert kann nicht verstehen, was das alles mit seiner Partnerschaft zu tun haben soll. Warum sind die unbeschwerten Tandemtouren von einst heute so schwer zu arrangieren? Waren das alles faule Kompromisse, männliche Gaunerstücke?

Doch die Diskussionen breiten sich längst auf andere Themen des täglichen Lebens aus. Weitere Tabellen werden an die Kühlschranktür geheftet. Was früher im einzelnen gemeinsam beraten und frei entschieden wurde, wird jetzt durch eine ausgewogene Verabredung klar geregelt. Die Belange des Alltags bieten dadurch kaum noch Anlass für Verständigungen oder gar für Streiterei. Einiges zwischen den beiden läuft jetzt gerechter, dagegen häufen sich die Konfrontationen auf grundlegender und prinzipieller Ebene. Das Vertrauen in den gemeinsamen Nenner scheint verloren gegangen zu sein. An seiner statt stehen nun die Kontrolle von Vereinbarungen und der Streit darüber. Einmal fällt der Vorwurf der “toxischen Männlichkeit”. Beim gemeinsamen Radeln sieht man das Paar hingegen immer seltener. Herbert fährt mit dem alten Hollandrad seiner Mutter zum Dienst. Yvonne hat sich ein eigenes Crossbike gekauft. Auf einer ihrer selbstgeplanten Solotouren trifft sie beim Rasten auf ihre alte Freundin. Yvonne skizziert ihr in kurzen Worten die zunehmend missliche Situation des Paares in der letzter Zeit. Die Freundin tröstet sie: “Weißt du Yvonne, du bist so eine Kluge! Ich meine, er hat dich eigentlich gar nicht verdient, dieser Chauvi.”

Zu einer Familie hat es die Liebe zwischen Yvonne und Herbert nicht geschafft. Wenige Monate später trennen sich die beiden.