Lorbeerbund

Gedanken und Perspektiven in deutscher Sprache

Die richtige Seite der Geschichte

“Auf der richtigen Seite der Geschichte” stehen heißt, sich für die Schwachen und Machtlosen – in der Welt und im eigenen Land – aktiv einsetzen (sozial), außerdem der Welt eine unbedingte Wertschätzung für seine Mitmenschen und deren Lebensentwürfe geduldig vorleben (divers, inklusiv). Die “richtige Seite der Geschichte” findet sich demnach nicht im Kampf der Kulturen. Nicht das floskelhafte Wort oder das Heulen mit dem eigenen Rudel: das eigene Handeln allein zeugt davon, wo jeder von uns steht.

Debatte 1

zu 'Das Böse'

Auf der von mir genutzten Mastodon-Instanz entspann sich angesichts der Überlegungen, die ich in 'Das Böse' niedergeschrieben habe, eine schriftliche Debatte, die so bezeichnend für die heute verbreitete Unversöhnlichkeit ist, dass ich sie für einen Nachvollzug hier ungekürzt und unverändert (einschließlich der enthaltenen Schreibfehler) dokumentiere.

Der Text, an dem sich die Debatte entzündete, findet sich hier: https://wordsmith.social/lorbeerbund/das-bose

Julien Erzähl das mal dem Opfer das neben dir in der u-Bahn zusammengeschlagen wird.. Was unterscheidet den Gleichgültigen vom Täter?

Lorbeerbund Das erste Grundprinzip, das zivile Helfer, aber auch professionelle Einsatzkräfte beachten, ist, eine Eigengefährdung und das Anheizen unkontrollierbarer Entwicklungen zu vermeiden. Es hilft dem Opfer einer Schlägerei überhaupt nicht, wenn es am Schluss der “Rettungsaktion” hundert verprügelte Retter gibt. Besonnenheit hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun.

Julien Besonnenheit ist also den Täter gewähren zu lassen? Im Moment geht es weder darum dem Opfer zu helfen oder sich selbst in Gefahr zu bringen, sondern lediglich darum das Opfer zu befähigen sich zu verteidigen. Und selbst das geschieht derart “besonnen” das es nicht mal dazu reicht den Täter in Schach zu halten. Propaganda ist derzeit das Mittel der Wahl um eben diese Befähigung auch noch zu unterminieren. Und du merkst es nicht einmal. Stalin nannte euch 'nützliche Idioten”

Lorbeerbund Besonnenheit bedeutet für mich, daran mitzuwirken, die Quelle der Gewalt so rasch wie möglich trockenzulegen, ohne die Beteiligten zu beurteilen. Danach können unabhängige Zuständigkeiten untersuchen, wie es zu dem Gewaltausbruch gekommen ist, die Schuldfrage klären und rechtsstaatlich vorgehen. Gelingt es mir dabei, auf ein spontanes, wenig reflektiertes Bedürfnis nach Vergeltung und Genugtuung zu verzichten, so habe ich das Böse in mir für den Moment erfolgreich bekämpft.

Julien Du schreibst von Propaganda. Ich sehe keinerlei Wirkung solcher, denn der sogenannte Westen bleibt ja massiv unter seinen Möglichkeiten diesen Konflik effektiv zu beenden. Beschäftige dich mal russischer Propaganda, das sollte deine Perspektive viellecicht ein wenig zurechtrücken

Lorbeerbund Okay, jetzt geht es also ad hominem. Danke für's Gespräch!

Julien war ja kein Gespräch in dem Sinne. Eher eine Reaktion auf einen Propagandavortrag dessen Intention ich ein wenig herausarbeiten konnte. Wer im diesem Kontext ernsthaft die Schuldfrage stellt transportiert faschistische, imperialistische Propaganda. Und ad hominem ging ja schon los als mir hier rachegelüste unterstellt wurden. So sehr kann man sich doch garnicht hinter Bücherwänden verschanzen das man 25 Jahre Geschichte verschläft

Lorbeerbund Du hast nichts herausgearbeitet und wenig verstanden, mein Freund. Aber lassen wir es dabei. Hab einen schönen Tag!

Julien Überheblichkeit und Blindheit gehen oft Hand in Hand...da hilft auch falsche freundlichkeit nicht. Wer solche Freunde hat braucht keine Feinde mehr. Edit: und, natürlich hast du in sämtlichen Antworten wunderbar herausgearbeitet das es dir ausschließlich darum geht die narrative des Täters zu transportieren und seine Ziele zu stützen (Schuld unklar, Westen womöglich schuld?, 'kann alle vernichten', Unterstützung der Ukraine = unterstützung von Mord etc pp)

Lorbeerbund Schau mal Julien, ich habe keinerlei Interesse an einem verbalen Ringkampf an dieser Stelle. Ich gebe dir Recht: Überheblichkeit und Blindheit sind tatsächlich wichtige Gründe dafür, dass wir heute dort sind, wo wir sind. Ich kann deine Verzweiflung verstehen.

Julien angesichts dessen wie tief die Propagandanarrative des reichsten Mannes östlich des Dnipros deutsche Medien, feullieton und friedensbewegte durchdringen, ja! Ist aber eher weniger Verzweiflung. Einfach Entsetzen gegenüber soviel Ignoranz und Dummheit. Ist doch alles schon mal dagewesen.

Lorbeerbund Nun hatten wir beide Gelegenheit, unsere Standpunkte vorzustellen und zu erläutern. Die Differenzen, aber auch verbindende Aspekte wurden deutlich. Danke für die Debatte!

Die Verpackung des Krieges

Schon jetzt hat der radikale Zionismus der jüdischen Sache mehr geschadet als der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhundert. Letzterer hat europäische Juden zu Opfern gemacht, mit denen sich schließlich die ganze Welt solidarisierte, der erste macht sie nun zu Tätern und vereitelt ihren Ausstieg aus der Opfer-Täter-Dynamik.

Beide Phänomene aber, der Zionismus und der Antisemitismus, sind im Ursprung zwei Seiten einer europäischen Münze – die semitischen Völker der Levante haben damit nichts zu tun. Doch seit einem dreiviertel Jahrhundert werden sie, die eigentlich Unbeteiligten, zu Opfern eines neuen westlichen Antisemitismus, der sich 'Kampf gegen Antisemitismus' nennt: die alte unbarmherzige Barbarei, die sich der neuen aufklärerischen Werkzeuge und Vokabeln bemächtigt hat. Denn an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat man gelernt, dass auf die Verpackung zu achten ist.

Und indem man die eigene Bosheit nun wieder am Fremden bekämpft, kann es unverdrossen weitergehen, das Schießen und Sterben in den Gräben und das goldene Kriegsgeschäft, mit der die Lebensleistung und Gesundheit von Völkern und Generationen durch gewissenlose Eliten geerntet wird, während sich an der Marketingfront heute Millionen schlichter Sesselkrieger rekrutieren lassen, die sich gern reichweitenstark daran beteiligen, das Morden zu rechtfertigen und Verantwortung zu projizieren.

Das Böse

Das Böse kann nicht in Russland oder in Gasa oder anderswo in der Welt bekämpft werden. Wirksam bekämpfen wir das Böse ausschließlich in uns selbst. Voraussetzung für den Erfolg im Kampf gegen das Böse sind Vertrauen, Geduld und die Bereitschaft, auf jede Art von Triumph zu verzichten. Dies ist freilich ein radikaler Gegenentwurf zu der Vorstellung vom Kampf gegen das Böse, wie sie von der hegemonialen Kultur des Imperiums angepriesen und seither von so vielen Menschen im Westen verinnerlicht worden ist.

Außerhalb von uns selbst kann nicht das Böse, sondern nur das vermeintlich “Böse” (Anführungszeichen) bekämpft werden. Der Kampf gegen das “Böse” aber geschieht im Zeichen von Misstrauen und Ungeduld und verzehrt sich nach Sieg und Triumph. Das Gute als Konzept gegen das Böse gilt ihm als “Appeasement”. Stattdessen bekämpft er “Böses” mit noch Böserem.

Ja, auch die sogenannten Nationalsozialisten bekämpften das “Böse”. Und immer wieder gibt es Menschen, die Macht missbrauchen, um es ihnen nachzutun.

Projektionspunkt Putin

Was die meisten #Putin-Statements eint ist ein Mangel an Bewusstsein für den synthetischen Charakter unserer Medienrealität. Was Putin tut, was er denkt, plant oder unterlässt, darüber glauben wir Empörendes zu wissen. Unser tatsächliches Wissen darüber ist jedoch winzig neben der Ignoranz gegenüber anderen Aspekten des Konflikts. Diese Disbalance ist ebenso ein Medienprodukt wie das #Putin [neutrum], das uns hilft, unsere chaotische Sensorik zu eichen. Putin ist ein Projektionspunkt, der es uns ermöglicht, von eigenen Versäumnissen abzusehen, welche viel älter sind als die jüngste Eskalation, und zu hoffen, dass uns prekäre Korrekturen erspart bleiben. Fakten, die einen Verlust dieses Projektionspunkts bedeuten, verweigern wir die Kenntnis, auch wenn sie eine Chance für Frieden beinhalten könnten. So kostet unser Griff nach dem Strohhalm, der unser moralisches Ego rettet, weiterhin Menschenleben, während die nötigen Korrekturen uns verfolgen werden. Dieses Lehrgeld wird momentan von Slawen in der Ukraine bezahlt. Doch die Rechnung an uns wird nicht lange auf sich warten lassen.

Wir, die Wohlstandsgenerationen

Ein Freund schrieb jüngst einen Vers über die Herablassung, die sich oft in ultrareichen bis gehobenen Kreisen findet, bei jenen Menschen, die sich nie mit den existenziellen Sorgen der großen Menschenmehrheit auseinandersetzen müssen.

Der Freund nannte seinen Vers den

“Chor der irdischen Selbstgerechtigkeit”.

Beim Golfen zu singen. “Bei Gott, – Wisst ihr denn nicht? Verwirret die Gewissen nicht! Mir geht's auch nicht gut! Das Leid der Welt – ich kann's nicht ändern. Ihr müsst Distanz gewinnen. Atmen! – und geht shoppen! Seid stark, so helft ihr den Schwachen.”

Zweifellos ist eine solche Ignoranz unerträglich und Teil unseres uralten Problems als Menschengemeinschaft. Oligarchen weltweit entziehen unserem Leben die vitalen Impulse, um sie in ihre toten Goldbarren zu gießen, mit denen sie uns politisch und militärisch noch besser erpressen können. – “Eigentum verpflichtet” war gestern. Und ein Gefühl des Gewissens oder der Verpflichtung gegenüber menschlichem Leben haben diese Leute niemals kennengelernt, dürfen sich aber ihres Reichtums und Einflusses wegen als Philanthropen bezeichnen lassen. Sie nutzen die edelsten Früchte der menschlichen Kultur, um uns zu manipulieren und unsere Selbstbehauptung zu ihrem Gunsten einzuhegen. ___

Doch was ist mit uns, die wir ihnen gegenüber stehen, zwar nicht so reich sind, aber doch vergleichsweise gut leben dürfen und uns durchaus über das Glück unserer Mitmenschen Gedanken machen? – Wir, die Wohlstandsgenerationen, die im Geiste von “Iss deinen Teller leer, woanders sterben Menschen Hungers!” aufgewachsen sind, wir haben ein fest internalisiertes Gewissensproblem, dem wir zu entkommen suchen.

Da ist nicht nur die Bereitschaft, da ist ein tiefes Bedürfnis danach, Opfer zu bringen, die unser peinigendes und stets geleugnetes Schuldgefühl lindern mögen. Und da ist die Suche nach einem noch böseren, noch schuldigeren Wesen, bei dem wir unsere Verantwortung abladen können. Sich endlich nicht mehr schuldig fühlen!

Aber leider ist die Entlastung durch Opfer und Projektion immer nur vorläufig. Ein einzelnes Opfer zu bringen ist offenbar nicht genug. Und im vermeintlich Bösen wird mit einigem zeitlichen Abstand bald die Ambivalenz des Lebendigen erkennbar.

Der Versuch, weitere Opfer zu bringen, mündet in dem zunächst missionarischen und später totalitären Anspruch, alle Menschen, die mit uns ein ähnliches Schicksal teilen, hätten nun Opfer zu bringen. Und nach dem noch böseren, noch schuldigeren Wesen folgt bald das absolut Böse, das durch nichts mehr relativiert werden kann. Erst wenn das gefunden oder zur Not geschaffen werden konnte, scheint uns Erlösung möglich. Und diese Erlösung, auf die alles in uns drängt, die moralische Gewissheit, zu den Guten zu gehören, ist das Letzte, was wir aufgeben würden. ___

Unser verdrängtes Gewissensproblem ist der Nasenring, an dem wir uns durch die Propagandamanege der Gewissenlosen führen lassen. Das trifft auf alle politischen Themen unserer Zeit zu. Opfer bringen, Verantwortung projizieren und sich den Guten zurechnen sind die Obsessionen dieser Epoche. Das ist unsere Seite der “irdischen Selbstgerechtigkeit”.

An der Notwendigkeit, unser verdrängtes Schuldgefühl zu bearbeiten und in konstruktive Impulse für eine gerechtere Weltgemeinschaft umzuwandeln, sind unsere Generationen, wie schon die unserer Eltern und Großeltern, gescheitert.

Dies sage ich meinen Kindern, wenn sie mich fragen, wie es zu Kriegen kommt. Ich erzähle ihnen nicht das Märchen vom Sauron in Mordor und dem idyllischen Auenland gen Westen.

Abhängigkeit

Das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit erzieht zur Friedfertigkeit.

Die gegenseitige Abhängigkeit ist eine Konstante menschlicher Gemeinschaft. Das Bewusstsein dafür kann jedoch verloren gehen, mit unabsehbaren Folgen für ganze Völker und Generationen!

Die Forderung, sich unabhängig von russischen Ressourcen zu machen, ist eine atlantische Verstiegenheit, die mit moralischem Impetus und grüner Tarnkleidung die alten ideologischen Konzepte des Kalten Krieges reanimiert. Wer eine solche Unabhängigkeit fordert, fordert den Krieg und wird für den Verlust unzähliger Menschenleben mitverantwortlich sein!

Erschreckend, wie flach und selbstgerecht der westliche Blick auf die jüngere europäische Geschichte konditioniert ist, ein Blick, der seine Nachdenklichkeit und Tiefgründigkeit Mitte des vergangenen Jahrhundert für amerikanische Schokolade und Kaugummi verhökert hat. Und noch erschreckender, wie gering grüne Lippenbekenner die globalen Klimagefahren tatsächlich priorisieren, die nur GEMEINSAM und im Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit abgewendet werden können.

Voneinander abgewandt, wortlos, misstrauisch, feindselig und verschlagen, aber unabhängig! – so taumeln wir unserem Untergang entgegen.

Covid und Putin

sind im westlichen Medienkontext nicht einfach Namen. Sie stehen als griffige und austauschbare Chiffren ganz generell für GEFAHR. – Eine Gefahr, die uns alle zu hilflosen Opfern macht, welche sich sodann unter den Schutzschirm staatlicher Strategien begeben dürfen. Wer sich diesen Ideologien und Agenden nicht unterwirft, riskiert seinen Opferstatus und steht, aus der Gemeinschaft verbannt, bald als Täter auf der Seite des Feindes, hat damit sein Schutzrecht verwirkt.

Schon werden für bestimmte Bürgerrechte wieder ideologisches Bekenntnis und Distanzierung eingefordert und deren Abwesenheit mit dem Entzug von Rechten schmerzhaft sanktioniert. Schon werden auch Ansprüche wieder nach Herkunft und physiologischen Merkmalen gewährt. Und die Masse jubelt in dumpfem Taumel aus Empörung und trunkener Genugtuung. Pogromstimmung – lange genug noch mit Beißhemmung im Zwinger trainiert, jetzt endlich wieder von der Kette gelassen.

Das Tandem

Yvonne und Herbert (Namen geändert) sind ein Paar. Gemeinsam besitzen sie ein Tandem, mit dem sie oft unterwegs sind. Beim Fahren an der frischen Luft haben sie viel Spaß und genießen regelmäßig ihren gemeinsamen Takt und die Abwechslung, die dadurch entsteht, dass sie untereinander häufig die Fahrpositionen wechseln. Einmal lädt Yvonne eine Freundin zu einer Spazierfahrt ein. Yvonne führt das Rad auf eine ihrer Lieblingstouren durch ein zerklüftetes Seengebiet mit Stegen, Brücken und einigen aufregenden landschaftlichen Ausblicken. Auf der Strecke fragt die Freundin Yvonne beiläufig, wer in ihrer Partnerschaft denn das Ziel der Fahrt vorgibt, wenn sie mit dem Tandem gerade nicht zu einem gemeinsamen Termin unterwegs sind. Yvonne ist verblüfft. Darüber hat sie noch nie nachgedacht. Sie meint, das sei von Fall zu Fall verschieden und ergebe sich eher zufällig. An den Zufall will die Freundin nicht recht glauben und fragt weiter: “Du fährst also auch mit, wenn dein Mann das Ziel der Fahrt vorgibt?” Der Tonfall macht Yvonne verlegen. Achselzuckend bejaht sie die Frage. In leisen und freundschaftlichen Worten gibt die Freundin zu bedenken, dass ganz allgemein über viele Jahrhunderte Männer diejenigen waren, die sich anmaßten, Frauen vorzugeben, wo es hingehen soll. Deshalb sollte eine Frau im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptieren, bedenkenlos den Vorgaben eines Mannes zu folgen. Yvonne will das Thema an diesem Nachmittag nicht weiter vertiefen, nimmt sich aber vor, in nächster Zeit einmal darauf zu achten, wie bei ihren Tandemfahrten die Auswahl von Strecken und Zielen zwischen ihrem Mann und ihr zustande kommt.

Und tatsächlich: nach einer Zeit der Beobachtung lässt sich nicht leugnen, dass bei ihren gemeinsamen Touren ihr Mann seine Streckenvorschläge häufiger als sie selbst an der vorderen Position umsetzt. Als es wieder einmal dazu kommen soll, stellt sie ihn diesbezüglich zur Rede. Herbert ist überrascht. Bisher hatte er seine Frau mit seinen kreativen Strecken immer begeistern können. Natürlich überlässt er ihr die Führung für diese Tour. Als es in nächster Zeit häufiger zu solchen Diskussionen kommt, macht Herbert einen Vorschlag: “Meine Liebste! Mit dir gemeinsam unterwegs zu sein, ist mir beim Tandemfahren wichtig, Ziele und Wege sind mir dagegen ziemlich egal. Was hältst du davon, wenn du künftig unsere Touren planst und sagst, wo es langgehen soll? Im Gegenzug lässt du mich an der vorderen Position fahren, damit ich das Gefühl haben kann, mit dir gemeinsam und doch selbstbestimmt unterwegs zu sein. Was hältst du davon?” Diesen Vorschlag findet Yvonne akzeptabel. Fortan sind sie wieder fröhlich gemeinsam unterwegs und Yvonne findet von Mal zu Mal mehr Freude daran, ihre Streckenplanung abwechslungsreich und überraschend auszugestalten. Bald ist für sie die Planung der Touren ebenso erfüllend wie die Touren selbst. Und Herbert ist beeindruckt von den Strecken, die sie auf diese Weise neu entdecken.

Einige Zeit später trifft sich Yvonne zum “Mädelsnachmittag” in einem Café der Altstadt. Auch ihre Freundin ist wieder mit dabei. Sie fragt Yvonne nach ihren Tandemtouren: “Hey sag mal, immer wenn man euch radeln sieht, führt dein Mann die Tour an. Hast du mal darüber nachgedacht, worüber wir vor einiger Zeit gesprochen haben? Oder hast du bei euch überhaupt nichts zu melden?” Yvonne erwidert: “Nein, meine Liebe, so ist das nicht!” Und sie erzählt von der Verabredung zwischen ihrem Mann und ihr und wie gut sich das eingespielt hat. Es entsteht eine kurze Pause. Die nutzt eine anderen Freundin, um sich einzuschalten: “Mensch Yvonne, hast du mal überlegt, was das nach außen für eine Botschaft aussendet? In dieser Stetigkeit, mit der man deinen Mann in letzter Zeit vorn auf dem Fahrrad sieht, ist das einfach das falsche Signal. Andere Frauen und Mädchen, die von eurer Verabredung nichts wissen, können leicht das Gefühl bekommen, es gehöre sich in einer Partnerschaft, dass der Mann das Lenkrad führt, und die Frau müsse sich hinter ihm fügen. Das kann nicht dein Ernst sein!” Nun ist auch die erste Freundin wieder bei der Sache: “Im Übrigen ist die Gestaltungsmacht von der hinteren Position aus – so sicher dir eure Verabredung auch scheint – niemals eine echte Autorität, sondern nur eine dir von deinem Mann erteilte Autorisierung. Die kann er dir jederzeit ohne weitere Verhandlung entziehen, indem er einfach woanders hinfährt.” Eine dritte Freundin nickt nachdrücklich: “Eine geliehene Macht ist gar keine Macht. Du solltest bei euren Touren darauf bestehen, dass die vordere Postion zwischen euch paritätisch besetzt wird. Was bist du doch für eine Naive. Wenn wir uns nicht um dich kümmern, kommst du noch unter die Räder des Patriarchats!” Alle kichern. Yvonne kichert, halb verlegen, halb dankbar, mit.

Bei ihrer nächsten gemeinsamen Tandemtour mit Herbert möchte Yvonne vorn fahren. Herbert ist einverstanden. In der Küche hängt Yvonne eine Tabelle an die Kühlschranktür, in die sie zuverlässig einträgt, bei welcher Tour wer von den Beiden das Lenkrad des Tandems geführt hat. Bald ist anhand der Tabelle deutlich abzulesen, wer – der Parität wegen – als nächstes den vorderen Platz beanspruchen darf. Kommt es zu Abweichungen, sorgt Yvonne dafür, dass diese zeitnah ausgeglichen werden. Zu Diskussionen kommt es dabei nicht mehr. Allerdings möchte Herbert für die Touren, bei denen er am Lenkrad sitzt, nun auch wieder Wege und Ziele vorgeben. Darüber gibt es Streit. Yvonne möchte, dass Herbert einsieht, dass Frauen sich viel zu lange nach männlichen Vorgaben richten mussten und noch immer gesellschaftlich benachteiligt sind. Und sie erwartet von ihm, dass sich diese Einsicht in seinem Zugeständnis, ihr die Routenplanung weiterhin zu überlassen, als ein Beitrag, die Welt gerechter zu machen, zeigt. Wenn er hier Parität erwarte, zeuge das von einem mangelnden Problembewusstsein und wäre letztlich ein Beitrag, alte patriarchale Konzepte zu konservieren. Herbert kann nicht verstehen, was das alles mit seiner Partnerschaft zu tun haben soll. Warum sind die unbeschwerten Tandemtouren von einst heute so schwer zu arrangieren? Waren das alles faule Kompromisse, männliche Gaunerstücke?

Doch die Diskussionen breiten sich längst auf andere Themen des täglichen Lebens aus. Weitere Tabellen werden an die Kühlschranktür geheftet. Was früher im einzelnen gemeinsam beraten und frei entschieden wurde, wird jetzt durch eine ausgewogene Verabredung klar geregelt. Die Belange des Alltags bieten dadurch kaum noch Anlass für Verständigungen oder gar für Streiterei. Einiges zwischen den beiden läuft jetzt gerechter, dagegen häufen sich die Konfrontationen auf grundlegender und prinzipieller Ebene. Das Vertrauen in den gemeinsamen Nenner scheint verloren gegangen zu sein. An seiner statt stehen nun die Kontrolle von Vereinbarungen und der Streit darüber. Einmal fällt der Vorwurf der “toxischen Männlichkeit”. Beim gemeinsamen Radeln sieht man das Paar hingegen immer seltener. Herbert fährt mit dem alten Hollandrad seiner Mutter zum Dienst. Yvonne hat sich ein eigenes Crossbike gekauft. Auf einer ihrer selbstgeplanten Solotouren trifft sie beim Rasten auf ihre alte Freundin. Yvonne skizziert ihr in kurzen Worten die zunehmend missliche Situation des Paares in der letzter Zeit. Die Freundin tröstet sie: “Weißt du Yvonne, du bist so eine Kluge! Ich meine, er hat dich eigentlich gar nicht verdient, dieser Chauvi.”

Zu einer Familie hat es die Liebe zwischen Yvonne und Herbert nicht geschafft. Wenige Monate später trennen sich die beiden.