Lorbeerbund

Gedanken und Perspektiven in deutscher Sprache

Ein Leserbrief [1]

https://www.nachdenkseiten.de/?p=85825

Im NDS-Beitrag „Keine Annäherung mehr mit Putins Regime!“ berichtet Florian Warweg von einem Pressegespräch mit Michael Roth (SPD) und fragt seine Leser nach deren Einschätzung der wörtlich zitierten Ausführungen Roths.

Mir kommen dazu spontan mehrere Gedanken.

  1. Die zitierten Äußerungen sind Zeugnis einer Fanatisierung des Freund-Feind-Denkens. Eine solche Fanatisierung haben wir bei Spitzenpolitikern in Deutschland seit 1945 nicht mehr erlebt. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wurde auf keiner Seite der innerdeutschen Grenze der politische Gegner so fanatisch zum totalen Feind stilisiert. Einen so fanatisierten Menschen fängt man nicht wieder ein. Auch viele Protagonisten des Dritten Reiches wurden angesichts des total verwüsteten Europas nicht etwa geläutert, sondern hielten bis an ihr Lebensende mehr oder minder verdeckt an ihren Überzeugungen fest. Herr Roth wird vermutlich bei seiner Haltung bleiben, selbst wenn das für Deutschland und Europa katastrophale Folgen haben sollte.

  2. Für mich ist das Wüten des Herrn Roth Ausdruck einer großen Ohnmacht, die entsteht, wenn Hybris durch unabweisbar reale Entwicklungen desillusioniert wird. Dieser Aktionismus, diese Beschwörung der eigenen Stärke und Einflussmöglichkeit angesichts der sich abzeichnenden Niederlage ist beschämend, aber auch bedauernswert. Wenn man jedoch bedenkt, dass die europäischen Völker mit einiger Wahrscheinlichkeit einen hohen Preis für diesen Mangel an menschlicher Größe zahlen werden, erscheint jede Genugtuung unangebracht.

  3. Im letzten Abschnitt des zitierten Vortrags besteht Herr Roth auf der wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Schwäche Russlands. “Russland ist nicht wettbewerbsfähig. Eine Regionalmacht. Weit abgeschlagen. Ohne Innovation.” etc. Aufmerksame Beobachter ahnen, dass dieser Einschätzung ein Fehlurteil zugrunde liegt, und Menschen, die sich näher damit befassen, wissen auch warum. Herrn Roth ist der Glaube an die Schwäche Russlands jedoch wichtig, weil die reale Entwicklung, die eine andere Sprache spricht, offenbar eine tiefe narzisstische Kränkung in ihm auslöst. Wer eine gegnerische Nation so herabwürdigt und schmäht, und selbst – wie zu Beginn des Gesprächs – als ein Prahlhans auftritt, der sollte keine außenpolitische Verantwortung tragen, sondern seiner eigenen Empfehlung folgen und sich psychologisch beraten lassen.

Projektionspunkt Putin

Was die meisten #Putin-Statements eint ist ein Mangel an Bewusstsein für den synthetischen Charakter unserer Medienrealität. Was Putin tut, was er denkt, plant oder unterlässt, darüber glauben wir Empörendes zu wissen. Unser tatsächliches Wissen darüber ist jedoch winzig neben der Ignoranz gegenüber anderen Aspekten des Konflikts. Diese Disbalance ist ebenso ein Medienprodukt wie das #Putin [neutrum], das uns hilft, unsere chaotische Sensorik zu eichen. Putin ist ein Projektionspunkt, der es uns ermöglicht, von eigenen Versäumnissen abzusehen, welche viel älter sind als die jüngste Eskalation, und zu hoffen, dass uns prekäre Korrekturen erspart bleiben. Fakten, die einen Verlust dieses Projektionspunkts bedeuten, verweigern wir die Kenntnis, auch wenn sie eine Chance für Frieden beinhalten könnten. So kostet unser Griff nach dem Strohhalm, der unser moralisches Ego rettet, weiterhin Menschenleben, während die nötigen Korrekturen uns verfolgen werden. Dieses Lehrgeld wird momentan von Slawen in der Ukraine bezahlt. Doch die Rechnung an uns wird nicht lange auf sich warten lassen.

Unabhängige Berichterstattung

Reaktion auf die Tagesschau-Aufklärung

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-russland-mythen-101.html

Die reichweitenstarke Institution der Tagesschau ist ein Flaggschiff der atlantischen Medienfront in Deutschland. Es ist beinahe müßig, das näher zu erläutern. Zweifellos ist die Tagesschau ein ultra-professioneller Medienbetrieb. Doch diese Professionalität wird weithin für Integrität gehalten. Das ist verhängnisvoll.

Da ich mich durch die systematischen Auslassungen und das geschickte Framing und Wording der Tagesschau mit ihren suggestiven Bildkommentaren regelmäßig brüskiert fühle, fällt es mir schwer, mich dem noch gezielt auszusetzen. Ich habe den verlinkten 'Faktencheck' dennoch gelesen. Wie den meisten Menschen fehlt mir die Zeit, einen sorgfältigen Gegencheck zu erstellen. Da das Lesen gewöhnlich am Ende des Beitrags endet, will ich einfach den letzten Punkt betrachten.

Die häufigsten Verschwörungsmythen [ex ante framing]

“Die Ukraine war kurz davor, sich Atomwaffen zu besorgen.”

Für diese Behauptung hat Russland keine stichhaltigen Belege vorgelegt. Die Ukraine verpflichtete sich 1994 im Memorandum von Budapest zur Abgabe der auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen – im Gegenzug für Sicherheitsgarantien. Dieses Abkommen brach Russland 2014 mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine.

Die USA, andere Staaten und insbesondere die Bundesrepublik verweigerten der Ukraine lange Zeit den Wunsch nach Waffenlieferungen. Erst unter US-Präsident Donald Trump erhielt die Ukraine die ersten Panzerabwehrraketen vom Typ “Javelin”. Diese Politik änderte sich erst mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine. Aber auch seitdem wurden nur bestimmte Waffentypen an die Ukraine geliefert, die maßgeblich der Verteidigung dienen.

Während der Münchner Sicherheitskonferenz- vor der russischen Militäroffensive – begann ab 16.02.2022 ein gegenüber den Monaten davor um den Faktor 10 erhöhter Beschuss der Donbass-Region. Diese Massierung von Angriffen wird von OSZE-Beobachtern bestätigt. https://www.jungewelt.de/artikel/421357.ukraine-konflikt-donbass-unter-beschuss.html Daraufhin werden tausende Bürger aus Sicherheitsgründen aus der Region evakuiert. Die russische Führung spricht später von einer Eskalation, die auf einen unmittelbar bevorstehenden militärischen Angriff von ukrainischer Seite hindeutete. Ihren Informationen nach galt diese Angriffsplanung der Zurückeroberung der Krim und der politisch militärischen “Säuberung” der Ostgebiete mit Hilfe ausländischer Partner. Nach ukrainischer Darstellung waren die beschriebenen Angriffe dagegen entweder gefaked oder von russischer Seite aus erfolgt. Russland habe die Evakuierung der Bürger schließlich veranlasst, um für einen nachfolgenden Angriff ein freies Schussfeld zu haben.

Natürlich folgt die Tagesschau der ukrainischen Sicht. Welche Veranlassung Separatisten oder russische Streitkräfte haben sollten, ihre eigenen Familien zu massakrieren, an dieser Frage hält man sich nicht auf. Man zitiert das ukrainische Verteidigungsministerium, um anschließend über russische Truppenbewegungen zu berichten. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-russland-153.html

In seiner Rede auf der 58. Münchner Sicherheitskonferenz am 19.02.2022 stellte Selenskij die ukrainische Seite erwartungsgemäß als Opfer einer seit acht Jahren währenden russischen Aggression dar, welche die mit ukrainischem Blut erkämpften Errungenschaften des Maidan zu relativieren versucht, eine Erzählung, die seit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte über allen Zweifel erhaben zu sein scheint. Selenskij sagte wörtlich:

Die Sicherheitsarchitektur in Europa und der Welt ist nahezu zerstört. Es ist zu spät, an Reparaturen zu denken. Es ist Zeit, ein neues System aufzubauen.

Die Menschheit hat dies zweimal getan und einen zu hohen Preis bezahlt – zwei Weltkriege. Wir haben die Chance, diesen Trend zu brechen, bis er zur Regelmäßigkeit wird. Und beginnen Sie, ein neues System aufzubauen, BEVOR wir Millionen von Opfern haben. Die alten Lehren aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zu haben, nicht die Erfahrung eines möglichen Dritten aus erster Hand.

Ich habe hier darüber gesprochen. Und bei der UNO auch. Ich habe gesagt, dass es im 21. Jahrhundert keinen Krieg im Ausland gibt. Dass die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass ein Schlag für die ganze Welt sind.

Und das ist kein Krieg in der Ukraine, sondern ein Krieg in Europa. Das habe ich auf Gipfeln und Foren gesagt. 2019. 2020. 2021. Hat die Welt das 2022 endlich gehört? ...

Wie dem auch sei, wir werden unser Land verteidigen. Egal wie viele – 50.000, 150.000 oder 1 Million – Soldaten jeder Armee an der Grenze stationiert sind. Um der Ukraine wirklich zu helfen, braucht man nicht zu sagen, wie viele von ihnen es gibt. Sie müssen sagen, wie viele von uns hier sind.

Um der Ukraine wirklich zu helfen, muss man nicht ständig über die Größe einer möglichen Invasion sprechen. Wir werden unser Land am 16. Februar, 1. März und 31. Dezember verteidigen. Wir brauchen andere Größen viel mehr. Und jeder versteht sehr gut, von welchen Größen ich spreche. Morgen begeht die Ukraine den Tag der Helden der Himmlischen Hundert.

Ich initiiere Konsultationen im Rahmen des Budapester Memorandums. Der Außenminister wurde beauftragt, sie einzuberufen. Wenn sie wieder nicht stattfinden oder zu keinen konkreten Entscheidungen zur Gewährleistung der Sicherheit unseres Staates führen, wird die Ukraine mit Recht glauben, dass das Budapester Memorandum nicht funktioniert und alle Beschlüsse des Pakets von 1994 in Frage gestellt wurden. ...

Die Ukraine wird sicherlich die Krim und die besetzten Gebiete des Donbass zurückerobern, aber nur auf friedlichem Wege. ... Die Welt braucht Frieden in der Ukraine. Frieden und Wiederherstellung der Integrität innerhalb international anerkannter Grenzen.

Und nur so und nicht anders. Und ich hoffe, niemand hält die Ukraine für einen bequemen und ewigen Puffer zwischen dem Westen und Russland, dem neuen München 2.0. Das wird nicht passieren, niemand wird es zulassen. Ansonsten – wer ist der Nächste? Müssen sich die Nato-Staaten gegenseitig verteidigen? Ich möchte glauben, dass der Nordatlantikvertrag und Artikel 5 effektiver sein werden als das Budapester Memorandum.”

https://www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/selenskyj-einer-von-uns-luegt-li.212932

Was bedeutet diese diplomatisch verklausulierte Formulierung im Klartext:

Selenskij fordert einen “friedlichen” Weg zur Wiederherstellung der Integrität seines Landes innerhalb international anerkannter Grenzen, zu der er die vollständige Reintegration der Krim und der Ostgebiete zählt. In JEDEM Fall werde dieses Ziel erreicht, darüber lässt Selenskij keinen Zweifel. Da es jedoch im Rahmen der aktuell wirksamen Sicherheitsordnung nur über einen weiteren Weltkrieg mit “Millionen von Opfern” erreichbar wäre, fordert er eine neue Sicherheitsordnung, in der das Budapester Memorandum abgelöst wird von einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO.

Das Budapester Memorandum legte aber fest, dass die Ukraine im Austausch für Sicherheitsgarantien auf Kernwaffen verzichtet. Da diese Sicherheitsgarantien von Russland verletzt worden seien, sei auch die Verzichtserklärung hinfällig und der Weg zur nuklearen Teilhabe im Rahmen der NATO sei damit aufgetan. Mittels der nuklearen Teilhabe könne Russland “auf friedlichem Wege” gezwungen werden, auf die Krim zu verzichten und die politische Säuberung der Ostgebiete zuzulassen, was immer das für die dort lebenden Menschen bedeutet. Über die Sicherheitsgarantien, die Russland seit langem für eben diese Menschen fordert und deren konsequente Missachtung Russland zu mancherlei Schritten veranlasst hat, darüber fällt hier kein Wort.

Fakt ist aber, dass durch den Bezug auf die Abkehr vom Budapester Memorandum sehr wohl die Stationierung von NATO-Atomwaffen auf ukrainischem Staatsgebiet thematisiert worden ist, ganz gleich, ob man das für gerechtfertigt hält oder nicht.

In deutschen Leitmedien schweigt man sich über diesen Umstand konsequent aus. Nach einigem Suchen habe ich nur etwas gefunden, das sich im offiziellen Duktus nicht direkt als “seriöse” Quelle bezeichnen lässt: https://linkezeitung.de/2022/02/21/der-ukrainische-praesident-selensky-hat-angedroht-sein-land-zur-atommacht-zu-machen/

Und was macht die Tagesschau? – Auch sie spricht nicht darüber, dass Selenskij als “friedlichen Weg” zum Erreichen seiner Ziele NATO-Atomwaffen auf Ukrainischem Staatsgebiet ins Gespräch bringt, was Russland als eines seiner Interventionsgründe nennt. Ohne Angabe von Quellen oder gar echten Beweisen behauptet sie stattdessen, es gelte, dem russischen “Mythos” zu widersprechen, die Ukraine sei “kurz davor [gewesen], sich Atomwaffen zu besorgen”.

Klingt so ähnlich, ist aber etwas ganz anderes. Eine Strohmann-Beweisführung also. Als einziges Argument dagegen reicht der Tagesschau, dass Russland “keine stichhaltigen Belege für diese Behauptung vorgelegt” hätte.

Entscheidend sei jedoch, dass das Memorandum von Budapest, das den Verzicht auf Atomwaffen regelt, durch “die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine” durch Russland (!) hinfällig geworden sei. Seine Gültigkeit – so lese ich es – sei erst durch die Rücknahme dieser Maßnahmen wieder gewährleistet. Solange Russland also etwa die Krim nicht zurück gibt, wäre es gar kein Problem und sogar nachvollziehbar, wenn auf ukrainischem Boden Atomwaffen stationiert werden. Die Tagesschau leugnet also zunächst die Beweislage für eine Behauptung und legt im nächsten Moment eine Rechtfertigung für sie bei.

Aber dabei hält sie sich nicht auf. Das Publikum hat schließlich nur eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne. Um hier tiefere Nachforschung abzuschneiden, wird rasch noch auf die große unschuldige Friedfertigkeit verwiesen, die in der angeblich so zurückhaltenden Bewaffnungspolitik durch die USA und ihre NATO-Verbündeten zum Ausdruck gekommen sei. Erst durch Trump, auf dessen unhaltbaren Politikstil ja auch die Tagesschau schon immer hingewiesen hat, wurde von dieser Zurückhaltung abgewichen. Und an den jüngsten Waffenlieferungen an die Ukraine ist Russland schließlich selbst schuld.

All dies schluckt der Mediennutzer en passant: Wenn nicht gerade so ein Idiot wie Trump das Weiße Haus entehrt, ist die NATO ein freundliches Verteidigungsbündnis im Dienste der 'Regelbasierten Weltordnung', niemandes Feind und keine Bedrohung für friedliche Nachbarn. Einem solchen Partner, so der Subtext, kann nicht die Bereitschaft unterstellt werden, die Ukraine atomar zu bewaffnen. Militär-industriell-medialer Komplex, Milliarden-Gewinne, Ressourcen, Interessen, Geo-Politik, Einflusssphären, Geheimdienste, inszenierte Kriegsgründe, Drohnenmorde, Fals Flag, Destabilisierung, Regime-Change und das kolonialistische Aushungern ganzer Völker mittels “Sanktionen” und Lügen, Lügen, Lügen – das sind Themen, die bitte dort betrachtet werden, wo sie hingehören, auf der Seite des Feindes.

Die Aktivitäten etwa der CIA in der Ukraine, vorangetrieben in der Obama-Präsidentschaft, schon vor dem Maidan und erst recht nach ihm, das ist natürlich kein investigatives Thema für die Tagesschau, sondern vermutlich wieder nur ein “Verschwörungsmythos”. Dabei ist diese Tatsache für Insider der Materie nicht nur eine triviale Binse, sondern auch ein zentraler Punkt des Konflikts. Und die Behauptung, es würden auch jetzt vorwiegend Verteidigungswaffen geliefert, ist eine glatte Lüge. Aber der Tagesschau geht es nicht um tiefergehende Einsicht und ein ausgewogenes Verständnis von Zusammenhängen, sondern um das “richtige” Einordnen.

Dabei wäre es wichtig gewesen zu fragen, ob Selenskijs These überhaupt zutrifft, ob also etwa der Versuch der Ukraine, die Krim mittels eines konventionellen Krieges gegen Russland in die Ukraine zurück zu zwingen, die Welt wirklich in einen globalen Konflikt führen würde, während die Drohung mit Atom-Waffen im Rahmen einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft ein sicherer Weg sei, Selenskijs Ziele gegen Russland friedlich durchzusetzen. – Diese manipulative Behauptung Selenskijs unterzieht die Tagesschau keinem Faktencheck, nicht einmal einer nüchternen Beurteilung.

Wir, die Wohlstandsgenerationen

Ein Freund schrieb jüngst einen Vers über die Herablassung, die sich oft in ultrareichen bis gehobenen Kreisen findet, bei jenen Menschen, die sich nie mit den existenziellen Sorgen der großen Menschenmehrheit auseinandersetzen müssen.

Der Freund nannte seinen Vers den

“Chor der irdischen Selbstgerechtigkeit”.

Beim Golfen zu singen. “Bei Gott, – Wisst ihr denn nicht? Verwirret die Gewissen nicht! Mir geht's auch nicht gut! Das Leid der Welt – ich kann's nicht ändern. Ihr müsst Distanz gewinnen. Atmen! – und geht shoppen! Seid stark, so helft ihr den Schwachen.”

Zweifellos ist eine solche Ignoranz unerträglich und Teil unseres uralten Problems als Menschengemeinschaft. Oligarchen weltweit entziehen unserem Leben die vitalen Impulse, um sie in ihre toten Goldbarren zu gießen, mit denen sie uns politisch und militärisch noch besser erpressen können. – “Eigentum verpflichtet” war gestern. Und ein Gefühl des Gewissens oder der Verpflichtung gegenüber menschlichem Leben haben diese Leute niemals kennengelernt, dürfen sich aber ihres Reichtums und Einflusses wegen als Philanthropen bezeichnen lassen. Sie nutzen die edelsten Früchte der menschlichen Kultur, um uns zu manipulieren und unsere Selbstbehauptung zu ihrem Gunsten einzuhegen. ___

Doch was ist mit uns, die wir ihnen gegenüber stehen, zwar nicht so reich sind, aber doch vergleichsweise gut leben dürfen und uns durchaus über das Glück unserer Mitmenschen Gedanken machen? – Wir, die Wohlstandsgenerationen, die im Geiste von “Iss deinen Teller leer, woanders sterben Menschen Hungers!” aufgewachsen sind, wir haben ein fest internalisiertes Gewissensproblem, dem wir zu entkommen suchen.

Da ist nicht nur die Bereitschaft, da ist ein tiefes Bedürfnis danach, Opfer zu bringen, die unser peinigendes und stets geleugnetes Schuldgefühl lindern mögen. Und da ist die Suche nach einem noch böseren, noch schuldigeren Wesen, bei dem wir unsere Verantwortung abladen können. Sich endlich nicht mehr schuldig fühlen!

Aber leider ist die Entlastung durch Opfer und Projektion immer nur vorläufig. Ein einzelnes Opfer zu bringen ist offenbar nicht genug. Und im vermeintlich Bösen wird mit einigem zeitlichen Abstand bald die Ambivalenz des Lebendigen erkennbar.

Der Versuch, weitere Opfer zu bringen, mündet in dem zunächst missionarischen und später totalitären Anspruch, alle Menschen, die mit uns ein ähnliches Schicksal teilen, hätten nun Opfer zu bringen. Und nach dem noch böseren, noch schuldigeren Wesen folgt bald das absolut Böse, das durch nichts mehr relativiert werden kann. Erst wenn das gefunden oder zur Not geschaffen werden konnte, scheint uns Erlösung möglich. Und diese Erlösung, auf die alles in uns drängt, die moralische Gewissheit, zu den Guten zu gehören, ist das Letzte, was wir aufgeben würden. ___

Unser verdrängtes Gewissensproblem ist der Nasenring, an dem wir uns durch die Propagandamanege der Gewissenlosen führen lassen. Das trifft auf alle politischen Themen unserer Zeit zu. Opfer bringen, Verantwortung projizieren und sich den Guten zurechnen sind die Obsessionen dieser Epoche. Das ist unsere Seite der “irdischen Selbstgerechtigkeit”.

An der Notwendigkeit, unser verdrängtes Schuldgefühl zu bearbeiten und in konstruktive Impulse für eine gerechtere Weltgemeinschaft umzuwandeln, sind unsere Generationen, wie schon die unserer Eltern und Großeltern, gescheitert.

Dies sage ich meinen Kindern, wenn sie mich fragen, wie es zu Kriegen kommt. Ich erzähle ihnen nicht das Märchen vom Sauron in Mordor und dem idyllischen Auenland gen Westen.

Abhängigkeit

Das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit erzieht zur Friedfertigkeit.

Die gegenseitige Abhängigkeit ist eine Konstante menschlicher Gemeinschaft. Das Bewusstsein dafür kann jedoch verloren gehen, mit unabsehbaren Folgen für ganze Völker und Generationen!

Die Forderung, sich unabhängig von russischen Ressourcen zu machen, ist eine atlantische Verstiegenheit, die mit moralischem Impetus und grüner Tarnkleidung die alten ideologischen Konzepte des Kalten Krieges reanimiert. Wer eine solche Unabhängigkeit fordert, fordert den Krieg und wird für den Verlust unzähliger Menschenleben mitverantwortlich sein!

Erschreckend, wie flach und selbstgerecht der westliche Blick auf die jüngere europäische Geschichte konditioniert ist, ein Blick, der seine Nachdenklichkeit und Tiefgründigkeit Mitte des vergangenen Jahrhundert für amerikanische Schokolade und Kaugummi verhökert hat. Und noch erschreckender, wie gering grüne Lippenbekenner die globalen Klimagefahren tatsächlich priorisieren, die nur GEMEINSAM und im Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit abgewendet werden können.

Voneinander abgewandt, wortlos, misstrauisch, feindselig und verschlagen, aber unabhängig! – so taumeln wir unserem Untergang entgegen.

Covid und Putin

sind im westlichen Medienkontext nicht einfach Namen. Sie stehen als griffige und austauschbare Chiffren ganz generell für GEFAHR. – Eine Gefahr, die uns alle zu hilflosen Opfern macht, welche sich sodann unter den Schutzschirm staatlicher Strategien begeben dürfen. Wer sich diesen Ideologien und Agenden nicht unterwirft, riskiert seinen Opferstatus und steht, aus der Gemeinschaft verbannt, bald als Täter auf der Seite des Feindes, hat damit sein Schutzrecht verwirkt.

Schon werden für bestimmte Bürgerrechte wieder ideologisches Bekenntnis und Distanzierung eingefordert und deren Abwesenheit mit dem Entzug von Rechten schmerzhaft sanktioniert. Schon werden auch Ansprüche wieder nach Herkunft und physiologischen Merkmalen gewährt. Und die Masse jubelt in dumpfem Taumel aus Empörung und trunkener Genugtuung. Pogromstimmung – lange genug noch mit Beißhemmung im Zwinger trainiert, jetzt endlich wieder von der Kette gelassen.

Das Tandem

Yvonne und Herbert (Namen geändert) sind ein Paar. Gemeinsam besitzen sie ein Tandem, mit dem sie oft unterwegs sind. Beim Fahren an der frischen Luft haben sie viel Spaß und genießen regelmäßig ihren gemeinsamen Takt und die Abwechslung, die dadurch entsteht, dass sie untereinander häufig die Fahrpositionen wechseln. Einmal lädt Yvonne eine Freundin zu einer Spazierfahrt ein. Yvonne führt das Rad auf eine ihrer Lieblingstouren durch ein zerklüftetes Seengebiet mit Stegen, Brücken und einigen aufregenden landschaftlichen Ausblicken. Auf der Strecke fragt die Freundin Yvonne beiläufig, wer in ihrer Partnerschaft denn das Ziel der Fahrt vorgibt, wenn sie mit dem Tandem gerade nicht zu einem gemeinsamen Termin unterwegs sind. Yvonne ist verblüfft. Darüber hat sie noch nie nachgedacht. Sie meint, das sei von Fall zu Fall verschieden und ergebe sich eher zufällig. An den Zufall will die Freundin nicht recht glauben und fragt weiter: “Du fährst also auch mit, wenn dein Mann das Ziel der Fahrt vorgibt?” Der Tonfall macht Yvonne verlegen. Achselzuckend bejaht sie die Frage. In leisen und freundschaftlichen Worten gibt die Freundin zu bedenken, dass ganz allgemein über viele Jahrhunderte Männer diejenigen waren, die sich anmaßten, Frauen vorzugeben, wo es hingehen soll. Deshalb sollte eine Frau im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptieren, bedenkenlos den Vorgaben eines Mannes zu folgen. Yvonne will das Thema an diesem Nachmittag nicht weiter vertiefen, nimmt sich aber vor, in nächster Zeit einmal darauf zu achten, wie bei ihren Tandemfahrten die Auswahl von Strecken und Zielen zwischen ihrem Mann und ihr zustande kommt.

Und tatsächlich: nach einer Zeit der Beobachtung lässt sich nicht leugnen, dass bei ihren gemeinsamen Touren ihr Mann seine Streckenvorschläge häufiger als sie selbst an der vorderen Position umsetzt. Als es wieder einmal dazu kommen soll, stellt sie ihn diesbezüglich zur Rede. Herbert ist überrascht. Bisher hatte er seine Frau mit seinen kreativen Strecken immer begeistern können. Natürlich überlässt er ihr die Führung für diese Tour. Als es in nächster Zeit häufiger zu solchen Diskussionen kommt, macht Herbert einen Vorschlag: “Meine Liebste! Mit dir gemeinsam unterwegs zu sein, ist mir beim Tandemfahren wichtig, Ziele und Wege sind mir dagegen ziemlich egal. Was hältst du davon, wenn du künftig unsere Touren planst und sagst, wo es langgehen soll? Im Gegenzug lässt du mich an der vorderen Position fahren, damit ich das Gefühl haben kann, mit dir gemeinsam und doch selbstbestimmt unterwegs zu sein. Was hältst du davon?” Diesen Vorschlag findet Yvonne akzeptabel. Fortan sind sie wieder fröhlich gemeinsam unterwegs und Yvonne findet von Mal zu Mal mehr Freude daran, ihre Streckenplanung abwechslungsreich und überraschend auszugestalten. Bald ist für sie die Planung der Touren ebenso erfüllend wie die Touren selbst. Und Herbert ist beeindruckt von den Strecken, die sie auf diese Weise neu entdecken.

Einige Zeit später trifft sich Yvonne zum “Mädelsnachmittag” in einem Café der Altstadt. Auch ihre Freundin ist wieder mit dabei. Sie fragt Yvonne nach ihren Tandemtouren: “Hey sag mal, immer wenn man euch radeln sieht, führt dein Mann die Tour an. Hast du mal darüber nachgedacht, worüber wir vor einiger Zeit gesprochen haben? Oder hast du bei euch überhaupt nichts zu melden?” Yvonne erwidert: “Nein, meine Liebe, so ist das nicht!” Und sie erzählt von der Verabredung zwischen ihrem Mann und ihr und wie gut sich das eingespielt hat. Es entsteht eine kurze Pause. Die nutzt eine anderen Freundin, um sich einzuschalten: “Mensch Yvonne, hast du mal überlegt, was das nach außen für eine Botschaft aussendet? In dieser Stetigkeit, mit der man deinen Mann in letzter Zeit vorn auf dem Fahrrad sieht, ist das einfach das falsche Signal. Andere Frauen und Mädchen, die von eurer Verabredung nichts wissen, können leicht das Gefühl bekommen, es gehöre sich in einer Partnerschaft, dass der Mann das Lenkrad führt, und die Frau müsse sich hinter ihm fügen. Das kann nicht dein Ernst sein!” Nun ist auch die erste Freundin wieder bei der Sache: “Im Übrigen ist die Gestaltungsmacht von der hinteren Position aus – so sicher dir eure Verabredung auch scheint – niemals eine echte Autorität, sondern nur eine dir von deinem Mann erteilte Autorisierung. Die kann er dir jederzeit ohne weitere Verhandlung entziehen, indem er einfach woanders hinfährt.” Eine dritte Freundin nickt nachdrücklich: “Eine geliehene Macht ist gar keine Macht. Du solltest bei euren Touren darauf bestehen, dass die vordere Postion zwischen euch paritätisch besetzt wird. Was bist du doch für eine Naive. Wenn wir uns nicht um dich kümmern, kommst du noch unter die Räder des Patriarchats!” Alle kichern. Yvonne kichert, halb verlegen, halb dankbar, mit.

Bei ihrer nächsten gemeinsamen Tandemtour mit Herbert möchte Yvonne vorn fahren. Herbert ist einverstanden. In der Küche hängt Yvonne eine Tabelle an die Kühlschranktür, in die sie zuverlässig einträgt, bei welcher Tour wer von den Beiden das Lenkrad des Tandems geführt hat. Bald ist anhand der Tabelle deutlich abzulesen, wer – der Parität wegen – als nächstes den vorderen Platz beanspruchen darf. Kommt es zu Abweichungen, sorgt Yvonne dafür, dass diese zeitnah ausgeglichen werden. Zu Diskussionen kommt es dabei nicht mehr. Allerdings möchte Herbert für die Touren, bei denen er am Lenkrad sitzt, nun auch wieder Wege und Ziele vorgeben. Darüber gibt es Streit. Yvonne möchte, dass Herbert einsieht, dass Frauen sich viel zu lange nach männlichen Vorgaben richten mussten und noch immer gesellschaftlich benachteiligt sind. Und sie erwartet von ihm, dass sich diese Einsicht in seinem Zugeständnis, ihr die Routenplanung weiterhin zu überlassen, als ein Beitrag, die Welt gerechter zu machen, zeigt. Wenn er hier Parität erwarte, zeuge das von einem mangelnden Problembewusstsein und wäre letztlich ein Beitrag, alte patriarchale Konzepte zu konservieren. Herbert kann nicht verstehen, was das alles mit seiner Partnerschaft zu tun haben soll. Warum sind die unbeschwerten Tandemtouren von einst heute so schwer zu arrangieren? Waren das alles faule Kompromisse, männliche Gaunerstücke?

Doch die Diskussionen breiten sich längst auf andere Themen des täglichen Lebens aus. Weitere Tabellen werden an die Kühlschranktür geheftet. Was früher im einzelnen gemeinsam beraten und frei entschieden wurde, wird jetzt durch eine ausgewogene Verabredung klar geregelt. Die Belange des Alltags bieten dadurch kaum noch Anlass für Verständigungen oder gar für Streiterei. Einiges zwischen den beiden läuft jetzt gerechter, dagegen häufen sich die Konfrontationen auf grundlegender und prinzipieller Ebene. Das Vertrauen in den gemeinsamen Nenner scheint verloren gegangen zu sein. An seiner statt stehen nun die Kontrolle von Vereinbarungen und der Streit darüber. Einmal fällt der Vorwurf der “toxischen Männlichkeit”. Beim gemeinsamen Radeln sieht man das Paar hingegen immer seltener. Herbert fährt mit dem alten Hollandrad seiner Mutter zum Dienst. Yvonne hat sich ein eigenes Crossbike gekauft. Auf einer ihrer selbstgeplanten Solotouren trifft sie beim Rasten auf ihre alte Freundin. Yvonne skizziert ihr in kurzen Worten die zunehmend missliche Situation des Paares in der letzter Zeit. Die Freundin tröstet sie: “Weißt du Yvonne, du bist so eine Kluge! Ich meine, er hat dich eigentlich gar nicht verdient, dieser Chauvi.”

Zu einer Familie hat es die Liebe zwischen Yvonne und Herbert nicht geschafft. Wenige Monate später trennen sich die beiden.