Wir, die Wohlstandsgenerationen

Ein Freund schrieb jüngst einen Vers über die Herablassung, die sich oft in ultrareichen bis gehobenen Kreisen findet, bei jenen Menschen, die sich nie mit den existenziellen Sorgen der großen Menschenmehrheit auseinandersetzen müssen.

Der Freund nannte seinen Vers den

“Chor der irdischen Selbstgerechtigkeit”.

Beim Golfen zu singen. “Bei Gott, – Wisst ihr denn nicht? Verwirret die Gewissen nicht! Mir geht's auch nicht gut! Das Leid der Welt – ich kann's nicht ändern. Ihr müsst Distanz gewinnen. Atmen! – und geht shoppen! Seid stark, so helft ihr den Schwachen.”

Zweifellos ist eine solche Ignoranz unerträglich und Teil unseres uralten Problems als Menschengemeinschaft. Oligarchen weltweit entziehen unserem Leben die vitalen Impulse, um sie in ihre toten Goldbarren zu gießen, mit denen sie uns politisch und militärisch noch besser erpressen können. – “Eigentum verpflichtet” war gestern. Und ein Gefühl des Gewissens oder der Verpflichtung gegenüber menschlichem Leben haben diese Leute niemals kennengelernt, dürfen sich aber ihres Reichtums und Einflusses wegen als Philanthropen bezeichnen lassen. Sie nutzen die edelsten Früchte der menschlichen Kultur, um uns zu manipulieren und unsere Selbstbehauptung zu ihrem Gunsten einzuhegen. ___

Doch was ist mit uns, die wir ihnen gegenüber stehen, zwar nicht so reich sind, aber doch vergleichsweise gut leben dürfen und uns durchaus über das Glück unserer Mitmenschen Gedanken machen? – Wir, die Wohlstandsgenerationen, die im Geiste von “Iss deinen Teller leer, woanders sterben Menschen Hungers!” aufgewachsen sind, wir haben ein fest internalisiertes Gewissensproblem, dem wir zu entkommen suchen.

Da ist nicht nur die Bereitschaft, da ist ein tiefes Bedürfnis danach, Opfer zu bringen, die unser peinigendes und stets geleugnetes Schuldgefühl lindern mögen. Und da ist die Suche nach einem noch böseren, noch schuldigeren Wesen, bei dem wir unsere Verantwortung abladen können. Sich endlich nicht mehr schuldig fühlen!

Aber leider ist die Entlastung durch Opfer und Projektion immer nur vorläufig. Ein einzelnes Opfer zu bringen ist offenbar nicht genug. Und im vermeintlich Bösen wird mit einigem zeitlichen Abstand bald die Ambivalenz des Lebendigen erkennbar.

Der Versuch, weitere Opfer zu bringen, mündet in dem zunächst missionarischen und später totalitären Anspruch, alle Menschen, die mit uns ein ähnliches Schicksal teilen, hätten nun Opfer zu bringen. Und nach dem noch böseren, noch schuldigeren Wesen folgt bald das absolut Böse, das durch nichts mehr relativiert werden kann. Erst wenn das gefunden oder zur Not geschaffen werden konnte, scheint uns Erlösung möglich. Und diese Erlösung, auf die alles in uns drängt, die moralische Gewissheit, zu den Guten zu gehören, ist das Letzte, was wir aufgeben würden. ___

Unser verdrängtes Gewissensproblem ist der Nasenring, an dem wir uns durch die Propagandamanege der Gewissenlosen führen lassen. Das trifft auf alle politischen Themen unserer Zeit zu. Opfer bringen, Verantwortung projizieren und sich den Guten zurechnen sind die Obsessionen dieser Epoche. Das ist unsere Seite der “irdischen Selbstgerechtigkeit”.

An der Notwendigkeit, unser verdrängtes Schuldgefühl zu bearbeiten und in konstruktive Impulse für eine gerechtere Weltgemeinschaft umzuwandeln, sind unsere Generationen, wie schon die unserer Eltern und Großeltern, gescheitert.

Dies sage ich meinen Kindern, wenn sie mich fragen, wie es zu Kriegen kommt. Ich erzähle ihnen nicht das Märchen vom Sauron in Mordor und dem idyllischen Auenland gen Westen.