Hamburg–Schwerin/Wittenberge: Was wirklich passiert, wenn eine Magistrale gesperrt wird
Wie armselig die Eisenbahn in Deutschland aufgestellt ist, zeigt sich aktuell im Norden. Da ist nämlich zwischen Hamburg, Schwerin und Wittenberge vier Monate lang alles gesperrt und damit auch die direkteste und leistungsfähigste Verbindung von Hamburg und Rostock nach Berlin. Das ist aber noch nicht die Generalsanierung, sondern nur die gerade eben nötigsten dringenden Reparaturen – an einer Strecke, die seit 1993 kurioserweise schon etliche Male modernisiert und saniert worden ist. Das zeigt, wie morsch die Strecke trotzdem ist. Aber ausreichende reelle Ersatzkapazitäten gibt’s nicht einmal ansatzweise.
Gerade die Strecke Hamburg–Hagenow Land–Ludwigslust–Wittenberge–Nauen–Berlin ist normalerweise sehr stark ausgelastet. Neben Regionalverkehr – der wohl auch aus Streckenkapazitätsgründen ausschließlich mit RegionalExpressen abgefackelt wird, die dafür aber an jeder Milchkanne halten – gibt es eigentlich zwei Fernreisezüge pro Stunde und Richtung und praktisch den gesamten Güterverkehr zwischen dem Hamburger Hafen und Osteuropa.
Alternativen?!
Reelle Ausweichmöglichkeiten halten sich in Grenzen. Nördlich der Schnellfahrstrecke Hannover–Oebisfelde–Stendal gibt es nur noch drei Eisenbahnstrecken, die die ehemalige deutsch-deutsche Grenze überqueren:
- die „Amerikalinie“ Uelzen–Salzwedel–Stendal. Elektrifiziert, aber das nach dem Krieg abgebaute zweite Gleis wurde nur zwischen Salzwedel und Hohenwulsch wieder aufgebaut, und der Westteil zwischen Salzwedel und Uelzen wurde nach der Wiedervereinigung bis 1999 saniert, aber ohne zweites Gleis und mit nur zwei Bahnhöfen mit Ausweichgleis in Wieren und Schnega. Mit einem vollständigen zweigleisigen Ausbau ist nicht vor 2028 zu rechnen – im Zuge der Generalsanierung der Strecke.
- besagte Strecke Hamburg–Hagenow Land–Ludwigslust, die als einzige zumindest außerhalb des Hamburger Stadtgebiets durchgängig zweigleisig ist, jetzt aber ganz bis nach Wittenberge gesperrt ist
- die Strecke Lübeck–Bad Kleinen, eingleisig und nicht elektrifiziert, mal abgesehen davon, daß theoretische Züge von Hamburg nach Bad Kleinen in Lübeck Kopf machen dürfen; zumindest gibt es ein paar mehr Ausweichgleise mit einer Nutzlänge von je über 400 Metern
Kurzum: Die einzige gangbare Option, den Ausweichverkehr mit einigermaßen Durchsatz zu fahren, wäre gewesen, ganz über den Großraum Hannover zu fahren. Verständlicherweise wäre das Wahnwitz.
Die Gummibahn kommt
Der Personenfernverkehr wird nun zur Hälfte über Uelzen–Salzwedel–Stendal gefahren und zur Hälfte im Abschnitt Hamburg–Berlin eben überhaupt nicht. Zunächst einmal heißt das, daß die Züge zwischen Hamburg und Uelzen mit auf die eh schon um 30% überlastete Strecke nach Hannover geschickt werden. Die 45 Minuten zusätzliche Fahrzeit sind ziemlich optimistisch.
Uelzen–Salzwedel wiederum hat gerade genug Kapazitäten für den Regionalverkehr und gelegentliche Güterzüge. Um da auch den Personenfernverkehr fahren zu können, hat man den Regionalverkehr kurzerhand westlich von Salzwedel komplett eingestellt und durch Busse ersetzt. Da werden allerdings stündliche und gut ausgelastete Doppelstockzüge durch ebenfalls stündliche Überlandbusse ersetzt. Weil es für einen dichteren Takt nicht reicht, gibt es keine Mitnahmegarantie.
Für den „Hanse-Expreß“ zwischen Hamburg und Rostock besteht ein Busersatzverkehr von und nach Schwerin. Aber zum einen fährt der mal ab Bergedorf, mal ab Wandsbeker Chaussee. Man muß also vorher wissen, von wo der jeweilige Bus jetzt fährt. Sollte man einen verpassen oder der Platz nicht reichen, dauert es auch eine Zeit, bis man an der jeweils anderen Station ist.
Zusätzlich fahren pro Tag und Richtung sechs InterCity-Busse zwischen Hamburg und Schwerin, aber wohl ungetaktet und mit miesen Anschlüssen. Und weil sie als Fernverkehr gelten, gilt auch das Deutschlandticket nicht.
… und dann kommen nur LINTe
Ansonsten ist nur noch die Verbindung von Lübeck nach Bad Kleinen übrig. Einmal am Tag fährt da pro Richtung ein InterCity von Hamburg über Lübeck an der Ostsee entlang. Aber erstens fährt der nur einmal am Tag. Zweitens ist da wohl mit einem „Restangebot“ mit sechs oder sieben Wagen zu rechnen statt mit einer ausgewachsenen Garnitur von mindestens zehn Wagen, zumal Kiel nicht mehr genügend Dieselloks hat, um die zwei notwendigen Maschinen für einen so langen Zug zur Verfügung zu stellen. Drittens ist auch das Fernverkehr. Und viertens hat man nach Berlin trotzdem noch einen Riesenumweg. Noch einmal zur Erinnerung: Das Gleisdreieck Hagenow Land–Ludwigslust–Holthusen ist komplett gesperrt.
Darüber hinaus fährt im Stundentakt die „Stadttore-Linie“, von der einzelne Züge bis hinter die polnische Grenze laufen. Die fährt im Stundentakt. Aber die fährt mit Dieseltriebwagen, Alstom Coradia LINT 41, was heutzutage das „Besser-als-nix“-Grundangebot ist. Den Tag über fahren die Züge in Doppeltraktion, und selbst die sind so schon ziemlich gut ausgelastet. Die stellen aber nördlich von Oebisfelde den einzigen Schienenverkehr über die ehemalige Zonengrenze überhaupt dar, der mit dem Deutschlandticket nutzbar ist.
Verstärken kann man da genau gar nichts. Die Züge verlängern kann man nicht, weil man dafür mehr exakt baugleiche Fahrzeuge bräuchte. Selbst LINT der neueren Generation von anderen Betreibern können mit den hier eingesetzten Triebwagen wahrscheinlich allenfalls mechanisch gekuppelt werden, aber wegen abweichender und daher inkompatibler Firmware nicht in Vielfachtraktion fahren.
Mehr oder andere Züge zu fahren, ist auch schlecht. Man bräuchte geeignete Dieselloks, die aus dem halben Bundesgebiet zusammengekarrt werden müssen, weil Kiel schon seinen eigenen Bedarf mit eigenen Loks nicht mehr decken kann. Wagen wären wohl das kleinste Übel, die könnten in riesigen Mengen vom Stillstandsmanagement in Mukran geholt werden. Aber dann bräuchte man auch noch Führerstandspersonal, das a) auf den Loks und b) auf der von den Loks zu befahrenden Strecke zugelassen ist und c) Zeit hat. Und zwar mit Rückfallebene. Schon wenn man die Züge in Rostock brechen und zwischen Lübeck und Rostock lokbespannte Doppelstockzüge fahren wollte, bräuchte es sechs Loks, zwei pro Garnitur, um an die Beschleunigungswerte der LINTe ranzukommen, und genug Triebfahrzeugführer für zwei Schichten pro Tag.
Was jetzt noch „geht“, wenn es denn geht
Wer jetzt mit dem Deutschlandticket von Hamburg nach Berlin will, hat im Prinzip folgende Optionen:
- über Lübeck, Rostock und den großen Schlenker über Neustrelitz, wenn man denn in Lübeck in den Zug kommt
- mit dem Bus bis Schwerin, dann dito, wenn man denn in Hamburg in den Bus kommt
- mit dem Metronom nach Uelzen, von da mit dem Bus nach Salzwedel und dann mit ein paarmal Umsteigen weiter, wenn man denn in Uelzen in den Bus kommt
- über Hannover, was nicht wesentlich entspannter ist, aber die kürzeste Verbindung mit ziemlicher Mitnahmegarantie, und gleichzeitig so lange dauert, daß eine Tagestour undenkbar ist
Da wünscht man sich wirklich, damals im Krieg wäre die Elbbrücke bei Dömitz nicht gesprengt worden. Oder zumindest die Kleptomanen der Roten Armee hätten nicht 1947 die komplette Strecke von Wittenberge bis Dömitz abgebaut und mitgenommen. Man bedenke, die Strecke ging mal von Wittenberge über Lüneburg bis nach Buchholz in der Nordheide. Das hätte nach der Wende ein schönes Verkehrsprojekt Deutsche Einheit abgegeben als bevorzugte Güterverbindung zwischen Hamburg und Berlin und natürlich für den Regionalverkehr. Das immer vorgesehene zweite Gleis hätte man auch bauen können; die Elbbrücke war ja zweigleisig. Nebeneffekt wäre gewesen, daß Hamburg–Wittenberge und Uelzen–Stendal eine Ausweichroute gehabt hätten.
Aber im Grunde grenzt es ja schon an ein Wunder, daß alleine die Strecke von Uelzen nach Stendal wieder durchgängig befahrbar ist und dafür praktisch komplett neu gebaut wurde. Es war ja angedacht, sie nach der Transrapid-Absage – ein Jahr nach ihrer Fertigstellung – für den ICE-Verkehr zwischen Hamburg und Berlin zu ertüchtigen, zumal das tatsächlich eine kürzere Route gewesen wäre als über Ludwigslust und Wittenberge. Statt dessen hat man die eh schon beinahe komplett zweigleisige letztere Route bevorzugt.
… und das ist erst der Vorgeschmack
In knapp einem Jahr kommt dann für satte acht Monate die Generalsanierung der kompletten Strecke vom Berliner Tor in Hamburg bis mindestens nach Berlin-Spandau. Man kann nur hoffen, daß die Nahverkehrsträger aus dem aktuellen Debakel gelernt haben und ein deutlich leistungsfähigeres Ersatzkonzept anbieten. Mehr Ersatzbusse zwischen Uelzen und Salzwedel. Mehr Ersatzbusse zwischen Hamburg und Schwerin. Idealerweise dann auch höhere Kapazitäten durch völlig anderes Rollmaterial zwischen Lübeck und Rostock. Und aufgrund der Flut an Passagieren, die auf dem Wege den Süden Mecklenburgs komplett umfahren müssen, auch erhöhte Kapazitäten von Rostock über Neustrelitz nach Berlin.
Klar, den Aufriß wie zwischen Lübeck und Puttgarden, wo für den jahrelangen Ersatzverkehr eigens mehrere Busse in entsprechender Farbgebung gekauft wurden und in Lensahn sogar eine ganz neue Haltestelle nebst Wendeschleife gebaut wurde, wird man für acht Monate nicht machen. Aber jetzt haben sie noch ein knappes Jahr, um einen amtlichen Ersatzverkehr aufzuziehen, der die sich jetzt zeigenden tatsächlichen Bedarfe aufnehmen kann. Mit „Seid froh, daß überhaupt was fährt, wo ihr vielleicht irgendwann mit reinpaßt“ hält man nämlich niemanden bei der Schienenverkehrsstange.