Bremsen bei der Eisenbahn

Bremsen bei der Eisenbahn haben mit denen beim Auto praktisch nichts gemeinsam. Bei beiden werden ansonsten starre Bremsklötze auf einen rotierenden Körper gedrückt, um dessen Rotation zu hemmen, aber das war’s dann auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Und dann hat die Eisenbahn auch noch Bremssysteme, die ganz anders arbeiten als alles, was man vom Auto kennt.

Unterschiede zum Pkw

Die Unterschiede fangen praktisch direkt vor den Bremsklötzen an. Beim Pkw hat man geschlossene Bremskreisläufe, die mit Bremsflüssigkeit gefüllt sind. Die Gesamtlänge der Bremsleitungen ist übersichtlich. Bei gelösten Bremsen hat das System im Prinzip Atmosphärendruck. Zum Bremsen wird der erhöht per Pedaldruck und Bremskraftverstärker. Dadurch, daß die Leitungen kurz sind und mit nicht komprimierbarer Flüssigkeit gefüllt, folgen die Bremszangen mehr oder weniger direkt der Bewegung des Bremspedals. Anhänger haben entweder eine Auflaufbremse oder gar keine.

Nichts davon findet man bei der Eisenbahn. Nicht einmal das Bremspedal. Geschlossene Bremskreisläufe gibt es auch keine. Das liegt daran, daß die Bremsleitungen sich durch den ganzen Zug ziehen. Auflaufbremsen gibt es also auch nicht, Eisenbahnwagen haben „richtige“ Bremsen. Daß alle Bremsen im Zug direkt durch (meistens) den Triebfahrzeugführer gesteuert werden, ist eigentlich sogar ein Vorteil; beim Auto wäre es ziemlich unpraktisch, ansonsten gäbe es das auch da.

Das bedeutet aber auch, daß die Bremsleitungen in Zügen lauter Kupplungen haben, die immer mal wieder gekuppelt und getrennt werden. Genau deshalb gibt es da keine Bremsflüssigkeit, sondern es wird mit Druckluft gearbeitet. Jeder, der schon mal tiefgreifendere Reparaturen an einer Pkw-Bremse durchgeführt hat, weiß, daß danach die Bremsleitungen aufwendig entlüftet werden müssen. Sobald die nämlich irgendwo offen sind, kommt Luft rein, und die Bremsen wirken nicht mehr richtig. Beim Zug gehen die Bremsleitungen aber beim Kuppeln und Entkuppeln ständig auf. Nicht nur würde dann jedes Mal ein bißchen Bremsflüssigkeit aus den Bremsschläuchen laufen (es gibt Absperrhähne, die sitzen aber nicht direkt an den Kupplungen am Schlauchende), die immer wieder nachgefüllt werden muß, sondern da käme immer Luft ins System. Und hunderte Meter an Bremsleitung gründlich zu entlüften, wäre im laufenden Betrieb viel zu aufwendig. Eine Bremsprobe bei einem Reisezug mit einem Dutzend Wagen dauert ja schon eine Viertelstunde.

So ist es tatsächlich am einfachsten, mit Luft zu arbeiten. Da macht es nichts, wenn sie aus dem System entweicht. Neue Luft muß nicht umständlich in einer Werkstatt nachgefüllt werden. Die bekommt man ins System einfach aus der Umgebung mittels eines auf dem Fahrzeug vorhandenen Kompressors.

Außerdem wurde die Druckluftbremse von George Westinghouse schon erfunden, als es noch gar keine Bremsflüssigkeiten gab. Und keine Autos. Als dann irgendwann hydraulische Bremsen verfügbar waren, waren schon zahllose Eisenbahnfahrzeuge mit Druckluftbremsen unterwegs, die man nicht mehr umgebaut hätte.

Der Druck legt die Bremse nicht an, er löst sie

Ein weiterer Unterschied ist, daß Druckluftbremsen bei der Eisenbahn im Vergleich zur Pkw-Bremse genau umgekehrt wirken. Wenn auf den Leitungen Atmosphärendruck ist, sind die Bremsen mittels Federkraft voll angelegt. Der Druck wird zum Lösen erhöht, und zum Bremsen wird Luft abgelassen. In Europa ist es bei lokbespannten Zügen üblich, daß sie bei 5 bar Druck komplett gelöst sind. Warum man es nicht „einfach“ wie beim Auto macht? Weil diese Lösung sicherer ist als beim Auto. Wenn irgendwo Luft aus dem System entweicht (z. B. wenn eine Leitung schadhaft ist oder gar eine Kupplung reißt), ist die Fuhre nicht auf einmal ungebremst, sondern sie bremst selbsttätig ab. Wie gesagt: Wenn die Luft entweicht, ziehen die Bremsen an. Wenn irgendein Actionfilm etwas anderes behauptet, ist das ganz einfach Blödsinn.

Daß es beim Auto umgekehrt ist als bei der Eisenbahn, liegt übrigens nicht daran, daß die Lösung beim Auto irgendein „Standard“ wäre, von dem die Eisenbahn aus unerfindlichen Gründen abweicht – sondern weil es so, wie es beim Auto ist, praktischer ist. Oder wollen Sie auf der Autobahn stundenlang das Bremspedal voll durchtreten, damit Ihr Auto nicht bremst?

Allerdings sprechen Druckluftbremsen nicht annähernd so schnell an wie mit Flüssigkeit arbeitende Bremsen. Luft kann ja verdichtet werden, Bremsflüssigkeit nicht. Deswegen gibt es auch kein Bremspedal, dessen Bewegung die Bremsen folgen. Das liegt auch an den schieren Dimensionen, mit denen wir es bei der Eisenbahn zu tun haben. Reisezüge können in Deutschland bis zu 400 m lang werden (saisonale Urlaubszüge aus den Niederlanden im Transit kamen auf bis zu 450 m, aus Belgien auf bis zu 500 m), Güterzüge meistens bis zu 740 m (zwischen dem Rangierbahnhof Maschen und der dänischen Grenze hinter Flensburg bis zu 835 m). Da ziehen sich die Bremsleitungen über die ganze Zuglänge, und das Führerbremsventil ist ganz vorne.

Ganz andere Handhabung

Das Führerbremsventil ist das Eisenbahnpendant zum Bremspedal beim Auto und funktioniert doch ganz anders. Man hat kein Pedal, dessen Stellung von den Bremsen mehr oder weniger 1:1 übernommen wird. Statt dessen gibt es einen Stellhebel mit mehreren gerasteten Positionen. Auf der vordersten Position werden die Bremsleitungen mit Luft gefüllt und die Bremsen gelöst. Eine Position weiter hinten ist die Neutralstellung, da passiert gar nichts, weil der Druck auf den Bremsleitungen gehalten wird. Normalerweise liegt der Hebel in dieser Position. Dahinter kommen eine oder mehrere Positionen zum Ablassen der Luft, also zum Bremsen, wobei die hinterste von mehreren für Schnellbremsungen in Notfällen ist.

Zum Glück hängen bei modernen Bremsen die Bremszylinder nicht direkt an der durchgehenden Hauptluftleitung, sondern diese steuert auf jedem Fahrzeug Ventile an, über die die Luft schneller entweichen und somit schneller gebremst werden kann. Dennoch dauert das Anlegen der Bremsen beim Zug deutlich länger als beim Auto, und je nach Ausführung der Bremsen kann das Lösen noch länger dauern, so daß schnelles, präzise dosiertes Wechseln zwischen Anlegen und Bremsen beim Zug nicht möglich ist. Zum Lösen muß zumindest bei lokbespannten Zügen Druckluft von der Lok in den ganzen Zug geleitet werden, denn Wagen haben zwar eigene Luftbehälter, aber keine Luftpresser.

Ganz andere Dimensionen

Zur Länge des Systems kommt die Anzahl an Bremsen. Ein Pkw hat in den allermeisten Fällen vier Radbremsen, Feststellbremse nicht mitgerechnet. Einer der beladen 5.400 Tonnen (ohne Loks) schweren Erzzüge, die zwischen Hamburg und Salzgitter pendeln, hatte bis 2019 etwas mehr als 500 Radbremsen, davon 24 auf den Loks – inzwischen laufen vierachsige Loks statt der bisher sechsachsigen an den Zügen, was die Zahl der Bremsen um acht reduziert, aber trotzdem ist das eine Menge. Der ICE 1 hat pro Mittelwagen 16 Scheibenbremsen – vier pro Radsatz – plus je acht in jedem der beiden Triebköpfe, also insgesamt 208 Einzelbremsen. Die müssen aber auch über 800 Tonnen aus bis zu 280 km/h abbremsen können. Da sollte verständlich sein, daß man die nicht alle wie beim Auto mit einem Bremspedal bewegen kann, schon gar nicht, wenn man mit dem Pedal Druckluft bewegen muß statt Bremsflüssigkeit.

Mit der Zeit wurden auch die Bremssysteme bei der Eisenbahn weiterentwickelt, sonst würde heute auch im Reisezugverkehr kaum schneller gefahren werden als 140 km/h. Die klassische Klotzbremse, die auf die Laufflächen der Räder wirkt, hat an Vorteilen eigentlich nur, daß sie einfach im Aufbau und in der Wartung ist (es gibt keine verschleißenden Bremsscheiben, und um die Klötze zu wechseln, muß man nicht unter das Fahrzeug) und Flachstellen aus den Laufflächen rausbügelt. Für schnelle Reisezüge ist sie aber nicht leistungsfähig genug.

Trommelbremsen wurden weitgehend übersprungen; außer vielleicht bei Schienenbussen, die ohnehin voller Kfz-Technik sind, und ähnlichen Leichtfahrzeugen kam sie nicht zum Einsatz. Statt dessen ging man gleich über auf die Scheibenbremse, die zum einen bei Fernreisezügen ein sichereres Abbremsen aus hohen Geschwindigkeiten und zum anderen im Nahverkehr ein schnelleres (und leiseres) Abbremsen ermöglichte. Sie ist aufwendiger, weil sie gesonderte Bremsscheiben und Kunststoffbremssohlen benötigt, aber sie ist effizienter, auch weil man pro Radsatz mehr als zwei davon montieren kann, und fast geräuschlos.

Ganz andere Bremsbauarten

Als zusätzliche Bremse auf Reibungsbasis gibt es die Magnetschienenbremse. Die besteht aus einer Leiste mit mehreren Permanentmagneten, die in gelöster Stellung knapp über dem Schienenkopf gehalten wird. Wird die Bremse angelegt, wird diese Bremse auf den Schienenkopf gelegt und preßt sich mit Magnetkraft an. Nützlich ist sie nicht nur bei Schnell- und Hochgeschwindigkeitszügen, sondern auch bei leichten Schienenbussen und modernen Leichtbautriebwagen, bei denen die Bremswirkung der Radbremsen sehr begrenzt ist. Die Bremswirkung der Magnetschienenbremse ist so heftig, daß sie nur bei Schnellbremsungen zum Einsatz kommt.

Die Motorbremse vom Auto gibt es bei der Bahn nur selten, weil sie zum einen einen Verbrennungsmotor und zum anderen eine eher starre mechanische Kraftübertragung benötigt. Diese Kombination gibt es nur bei einigen Nahverkehrstriebwagen bzw. Schienenbussen und zumeist vor dem 2. Weltkrieg gebauten Kleinloks, und auch da wird eher nicht mit dem Motor gebremst. Bei elektrisch angetriebenen Fahrzeugen gibt es statt dessen verschiedene Möglichkeiten, die elektrischen Fahrmotoren als Generatoren zu nutzen und damit zu bremsen. Bei modernen elektrischen Triebfahrzeugen gibt es die Nutzbremse, die die so gewonnene Elektrizität wieder in die Fahrleitung einspeist. Einige Akkutriebwagen hatten die Möglichkeit der Rekuperation, also beim Bremsen die Akkus aufzuladen; bei modernen Akkufahrzeugen kehrt dies natürlich zurück. Einige dieselelektrische Lokomotiven können, wenn sie einen Reisezug befördern, die elektrische Energie aus der Rekuperation in die Hauptheizleitung einspeisen. Geht dies alles nicht, wird sie in Bremswiderständen verheizt.

Einige Hochgeschwindigkeitszüge haben zusätzlich sogenannte Wirbelstrombremsen. Die arbeiten nicht unähnlich den Magnetschienenbremsen, aber berührungsfrei und damit verschleißfrei: Elektromagneten, die in Schienennähe angebracht sind, erzeugen in der Schiene eine elektrische Wechselspannung. Die wiederum produziert ihr eigenes Magnetfeld. Die Wechselwirkung zwischen den beiden Magnetfeldern ist stark genug, daß damit das Fahrzeug auch aus hohen Geschwindigkeiten gebremst werden kann. Hauptnachteile von Wirbelstrombremsen ist, daß sie zum einen hohe Temperaturen und zum anderen starke Magnetfelder mit sich bringen, was sich störend auf entsprechend empfindliche technische Ausstattung am Gleis auswirken kann.

Elektropneumatische Bremsen

Auch das Ansprechverhalten der Bremsen wurde mit der Zeit verbessert. In modernen Reisezügen, vor allem in Hochgeschwindigkeitszügen, gibt es inzwischen elektropneumatische Bremsen. Druckluftleitungen dienen bei Verwendung der elektropneumatischen Bremse nur noch zum Wiederauffüllen der Bremssysteme in jedem einzelnen Fahrzeug. Betätigt werden die Bremsen aber über elektromagnetisch angetriebene Ventile, was wesentlich schneller geht als die Betätigung mit Druckluft, gerade bei längeren Zügen.

Für den Güterverkehr kommen ep-Bremsen aber nicht in Frage, weil auf Güterwagen im allgemeinen keinerlei Elektrik vorhanden ist und man bei Güterzügen aus Kompatibilitätsgründen alle Kupplungen vermeiden will, die nicht seit Jahrzehnten jeder Güterwagen hat – also alles, was über Schraubenkupplung und Hauptluftleitung hinausgeht, und somit auch Kabel jeglicher Art. Außerdem wäre es sowieso sinnlos. Zum einen fahren Güterzüge generell nicht so schnell, daß sie ep-Bremsen bräuchten. Zum anderen ginge es sehr auf die Substanz, wenn schwere Güterzüge derart abrupt gebremst würden. Schon Druckluftbremsen haben eine eigene Bremsstellung für Güterzüge, in der sanfter abgebremst wird.

Fazit

Trotz allem aber bleibt das Verhalten von Eisenbahnbremsen weit entfernt von dem von Nutzfahrzeugen auf der Straße, geschweige denn dem des Pkw. Letzten Endes scheitert das nicht nur an den Größenverhältnissen, sondern auch an der schieren Masse: Im Vergleich zum Auto hat schon bei einer einzeln fahrenden Lok eine einzelne Radbremse meistens das mehr als Zehnfache an Tonnage abzubremsen. Von einem 800 Tonnen schweren Reisezug, einem 2000 Tonnen schweren Containerzug oder gar einem 4000 Tonnen schweren Massengutzug kann man erst recht nicht erwarten, daß er so schnell steht wie ein 1,5 Tonnen schweres Auto.

Daß dadurch die Bremswege von Zügen weit über denen von Pkw liegen, sollte daher nicht verwundern.

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