Wie ein Blitz zwei Hauptachsen des Schienenpersonenverkehrs außer Gefecht setzen kann

Aktuell ist auf den Schienen Norddeutschlands die Hölle los. Oder gar nichts, je nachdem. Der Schienenpersonenfernverkehr zwischen Hamburg und Süddeutschland ist seit gestern abend gestört, der Regionalverkehr zwischen Hamburg und Uelzen fiel zeitweise komplett aus, und der Fernverkehr zwischen Hamburg und Berlin fällt immer noch komplett aus.

Hä? Zwischen Hamburg und Berlin auch? Wie kann das denn sein?

Was da passiert ist

Also mal der Reihe nach.

Gestern am späten Abend zog ein Gewitter durch die Lüneburger Heide. Bei Deutsch Evern schlug ein Blitz in die Oberleitung ein. Am Gleis schlug ein Blitz in einen Baum ein. Der kippte auf den Fahrdraht und schloß ihn so kurz. Der Effekt ist derselbe, wie wenn eine Erdungsstange an eine Schiene angelegt und dann gegen den Fahrdraht gekippt wird: fetter Funkenflug, Kurzschluß, zack, Schutzschalter springt, Fahrdraht stromlos.

Jetzt hat allerdings eine Oberleitung nicht alle ein, zwei Kilometer einen Trennschalter pro Gleis und dann jeweils separate Einspeisungen. Zumindest nicht hier. Vielleicht auf Strecken wie die Neubaustrecke zwischen Brüssel und Lüttich, die blockweise umschaltbar ist zwischen den in Belgien üblichen 3.000 Volt Gleichstrom und den für den Hochgeschwindigkeitsverkehr nötigen 25 kV 50 Hz Wechselstrom. Oder im Aachener Hauptbahnhof, der stückchenweise umschaltbar ist zwischen diesen beiden Fahrdrahtspannungen und den deutschen 15 kV 16,7 Hz Wechselstrom. Aber nicht hier, wo sowieso alles mit 15 kV 16,7 Hz Wechselstrom fährt.

Das heißt: Wenn es irgendwo einen Kurzen gibt, dann ist davon einiges mehr an Strecke betroffen. Und dann gleich alle Gleise. Es wäre nämlich völliger Overkill, für jedes Streckengleis alle ein, zwei Kilometer und womöglich auch noch für Nebengleise in Bahnhöfen jeweils ein eigenes Unterwerk mit eigenem Schutzschalter aufzustellen. Gibt’s also nicht.

Ganz ehrlich: Daß dabei an besetzten Reisezügen nur ein ICE aus Richtung Berlin liegengeblieben ist, grenzt an ein Wunder.

Die Folgen

Denn Deutsch Evern, das liegt bei Bad Bevensen. Bad Bevensen liegt zwischen Lüneburg und Uelzen. Und das liegt an der Strecke zwischen Hamburg und Hannover. Das ist eine der am stärksten befahrenen Eisenbahnstrecken Deutschlands. Die wäre mit dem eigentlichen Planverkehr schon völlig überfordert.

Das ist übrigens genau da, wo eigentlich die Y-Trasse gebaut werden sollte, um genau diese Strecke zu entlasten. Die kommt aber nicht, weil die durch den Wahlkreis des aktuellen SPD-Bundeschefs Lars Klingbeil verlaufen würde, der seine Macht auf Bundesebene einsetzt, um seine Wähler in seinem Heimatwahlkreis bei der Stange zu halten. Und der Ausbau der Bestandsstrecke wird beharrlich von dort wiederum ansässigen NIMBYs verhindert.

Genau die Strecke ist das. Und die war stundenlang tutto kompletto dicht. Inzwischen soll eins der beiden Streckengleise wieder elektrisch befahrbar sein, aber auch da kommt höchstens mal ab und an ein Metronom durch, damit wenigstens der SPNV wieder läuft.

Allerdings fährt da normalerweise noch sehr viel mehr. Zwischen Hamburg und Hannover gibt es fünf (!) Linien im Personenfernverkehr, die jeweils mindestens im Zweistundentakt fahren, teilweise im Stundentakt. Und dann kommt noch der Güterverkehr oben drauf.

Aber wieso Hamburg–Berlin?

Jetzt fragen sich trotzdem immer noch viele: „Wieso fallen auch alle ICEs zwischen Hamburg und Berlin aus? Das liegt doch gar nicht auf der Strecke!“

Doch, tut es. Jetzt jedenfalls.

Wie ich vor zweieinhalb Monaten schrieb, ist die eigentliche Strecke zwischen Hamburg und Berlin – also über Hagenow Land–Ludwigslust–Wittenberge–Neustadt (Dosse) eine Großbaustelle und daher voll gesperrt. Und das ist noch nicht mal die Generalsanierung, die nächstes Jahr kommen soll, während der die Strecke noch länger gesperrt sein und größtenteils komplett neu gebaut werden wird. Was da aktuell passiert, das ist Flickwerk, um wirklich akute Schäden zu reparieren.

Und so muß die Hälfte der Fernreisezüge zwischen Hamburg und Berlin umgeleitet werden über Lüneburg–Uelzen–Salzwedel–Stendal. Die andere Hälfte fällt aus, weil Uelzen–Salzwedel zum größten Teil immer noch nur eingleisig ist – und die planmäßigen RE zwischen Uelzen und Salzwedel genau deshalb auch, weil die ICEs die Streckenkapazitäten ziemlich aufbrauchen.

So, mit der Umleitungsstrecke ist es jetzt auch erstmal Essig.

Kann man da nichts machen?

Was gibt es denn sonst an Alternativen?

Die nächste elektrifizierte (!) Umgehungsstrecke wäre ab Hamburg-Harburg über Buchholz (Nordheide)–Rotenburg (Wümme)–Nienburg (Weser)–Wunstorf. Problem: Die Strecke hat kaum Fassungsvermögen, weil sie zwischen Rotenburg und Verden nur eingleisig ist. Der Abschnitt hat eben keine überregionale Bedeutung.

Und so wird die Strecke zwischen Rotenburg und Verden nur von Zügen nach Hamburg genutzt. Der Verkehr Richtung Hannover fährt zwischen Rotenburg und Verden statt dessen den Riesenschlenker über den auch nicht gerade wenig ausgelasteten Bremer Hauptbahnhof.

Das heißt trotzdem: Die „Rollbahn“ zwischen Hamburg und Bremen ist nun die einzig verbliebene Strecke für den Verkehr zwischen Hamburg, Hannover und Süddeutschland, zwischen Hamburg, dem Ruhrgebiet und dem Rheinland und zwischen Hamburg und Berlin. Und westlich von Buchholz kommt dann auch noch eine Menge Güterverkehr von und nach Maschen dazu.

Schon ohne die Berlin-Umleiter wäre da nichts mehr zu wollen. Selbst die Oberrheinstrecke mit CIR-ELKE könnte das nicht packen. Da reden wir von mehr Zügen pro Stunde und Richtung als auf dem Tokaido Shinkansen, sogar noch als bei der Hamburger S-Bahn – aber mit einer sehr viel größeren Bandbreite an Höchstgeschwindigkeiten. ICs und ICEs fahren 200 km/h, Flixtrain fährt 160 km/h, der Metronom fährt auch 160 km/h, hält aber unterwegs ein paarmal, der Intermodalverkehr fährt teilweise 120 km/h, andere Güterzüge fahren 100 km/h, und die 5400-Tonnen-Erzzüge von Hamburg-Hansaport nach Salzgitter-Beddingen fahren beladen nur 80 km/h, sollten aber tunlichst unterwegs nicht anhalten.

Die Folge ist ein grandioses Streichkonzert. Zwei Linien von Hamburg über Hannover sind gestrichen worden, eine davon nur nördlich von Hannover. Auch der umgeleitete übrige Personenfernverkehr Richtung Berlin ist gestrichen worden. Wenn man sowieso über Hannover fahren muß, weil Uelzen aus Richtung Hamburg nicht erreichbar ist, dann kann man das auch mit den Zügen, die eh fahren. Auch wenn die zum Brechen voll sein werden.

Eine naheliegende Idee wäre, zumindest den Berlin-Verkehr statt dessen über Büchen–Hagenow Land–Schwerin–Bad Kleinen–Bützow–Güstrow–Lalendorf–Waren (Müritz)–Neustrelitz–Oranienburg zu führen. Daß aber zwischen Lalendorf und dem Großraum Berlin die Züge die Lloydbahn mit dem Gesamtverkehr zwischen dem Großraum Berlin und Rostock – inklusive Seehafen, by the way, also vielviel Güterverkehr – teilen dürfen, ist noch das geringste Problem.

Nein, das fängt schon damit an, daß der Abschnitt Priemerburg–Lalendorf Ost nur eingleisig ist und auch das zweite Gleis zwischen Güstrow und Priemerburg von nur zweifelhafter Nutzbarkeit. Und es ist ja nicht so, daß da nichts fährt.

Und auch wenn der Abschnitt Hamburg–Büchen–Hagenow Land wieder „befahrbar“ ist, heißt das, er ist gerade eben so befahrbar. Auf weiten Teilen gibt’s weiterhin nur ein befahrbares Gleis und Höchstgeschwindigkeitsbeschränkungen. Die Kapazitäten reichen nicht annähernd, um auch nur den zweistündlichen RE nach Rostock planmäßig fahren zu lassen. Da dann auch noch pro Stunde und Richtung einen ICE durchzuquetschen – oder gar die zusätzlichen ICs, ICEs und ECs, die ohne die Großbaustelle da fahren würden und jetzt sowieso ausfallen –, wäre utopisch.

Der aktuelle Zwischenfall ist nur kurzfristig, verursacht aber trotzdem heftige Störungen, die sich auf halb Deutschland auswirken. Zugegeben, was gestern abend passiert ist, hätte nicht passieren können, wenn die DB auch an dieser Strecke vernünftigen Grünschnitt durchführen würde und keine Bäume da wären, die ins Gleis kippen könnten. Aber trotzdem kann immer mal etwas vorkommen, was zu einer Streckensperrung führen kann.

Wenn nächstes Jahr die Generalsanierung der Strecke Hamburg–Berlin kommt, können wir uns wahrscheinlich auf noch mehr solche Sachen gefaßt machen – gerade weil die Strecke Hamburg–Hannover hoffnungslos überlastet ist.

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