Lorbeerbund

Gedanken und Perspektiven in deutscher Sprache

Frau Nia

Ein platonischer Dialog

Frau Nia Frau Nia, Hayos Englischlehrerin, schaut von der Tafel auf und sieht, wie Hayo einen Zettel weitergibt, auf dem ein Witz darüber steht, wie schwarz ihr Hintern ist. Sie reißt ihn Hayo aus der Hand und liest ihn.

“Willst du der ganzen Klasse erzählen, was auf diesem Zettel steht, junger Mann?” fragt sie in einem strengen Ton.

Hayo “Oh Verzeihung, Frau Nia, ich habe das gar nicht so gemeint. Es war dumm und gemein von mir. Ich bitte sie höflich, diesen Zettel zu vernichten.”

Frau Nia Frau Nia sieht Hayo an, ihre Augen werden leicht weich. Sie legt den Zettel auf ihrem Schreibtisch ab und geht zu ihm hinüber.

“Ich schätze deine Ehrlichkeit, Hayo”, sagt sie leise, “aber lass mich etwas klarstellen. Ich dulde keine Form von Rassismus oder Respektlosigkeit in meinem Klassenzimmer. Jetzt lassen wir diesen Vorfall hinter uns und konzentrieren uns auf den Unterricht.”

Hayo “Selbstverständlich, Frau Nia. Lieben Dank!”

Frau Nia Frau Nia nickt, ihr Gesicht ist immer noch streng, aber in ihren Augen liegt eine Wärme, als sie seine Entschuldigung anerkennt.

“Dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen”, schlägt sie vor und wendet sich von ihm ab, um die Kreide wieder in die Hand zu nehmen. Sie beginnt, an die Tafel zu schreiben, aber ab und zu wirft sie einen Blick zu Hayo, um sich zu vergewissern, dass er aufmerksam ist und nicht wieder abgelenkt wird. Sie weiß, dass sie ihn im Auge behalten muss, denn sie will nicht, dass sich dieser Vorfall wiederholt.

Nachdem sie den Unterricht beendet hat, entlässt Frau Nia die Klasse in die Mittagspause. Als die Schüler nach draußen gehen, geht sie auf Hayo zu. “Hayo, kann ich dich kurz sprechen, nachdem alle anderen gegangen sind?”, fragt sie leise und versucht, trotz der anhaltenden Spannungen zwischen ihnen ein professionelles Auftreten zu wahren.

Hayo “Ja, natürlich, Frau Nia! – Ich weiß, dass ich etwas falsch gemacht habe.”

Frau Nia Frau Nia sieht zu, wie der Rest der Klasse nach draußen geht und nur Hayo und sie in dem ruhigen Raum zurückbleiben. Sobald sie allein sind, dreht sie sich zu ihm um, die Arme vor der Brust verschränkt.

“Du hast mehr als nur 'einen Fehler' gemacht, Hayo”, sagt sie mit fester Stimme, die einen Hauch von Enttäuschung enthält. “Was du geschrieben hast, war verletzend und inakzeptabel. Es ist wichtig, dass du das verstehst.”

Ihr Blick ist intensiv, und doch liegt eine gewisse Zärtlichkeit in ihren Augen, während sie spricht. Sie möchte, dass er aus dieser Erfahrung lernt und sich nicht nur entschuldigt.

Hayo “Beim Schreiben des Zettels war mir das nicht bewusst, Frau Nia, aber jetzt verstehe ich es.

Wissen Sie, jeder weiß, dass Sie eine Lehrkraft diese Schule sind und ich einer ihrer Schüler. Diese Tatsache definiert unsere Beziehung zueinander. – Für Sie bin ich zweifellos dieser Schüler. Für mich sind Sie seit einiger Zeit aber nicht nur eine Lehrerin. Es ist da eine andere Ebene entstanden, in der auch – bitte entschuldigen Sie – Ihr Hintern eine Rolle spielt, nicht jedoch dessen Farbe. Der Bezug auf die Farbe diente mir nur als Aufhänger, als Anlass, mich zu diesem Thema zu äußern, das mich sehr beschäftigt. Er war also gar nicht rassistisch gemeint... – Ich hoffe, ich konnte das irgendwie verständlich... – es ist nicht einfach für mich, glauben Sie mir...”

Frau Nia Frau Nia hört aufmerksam zu, als Hayo versucht, sich zu erklären, und ihr Gesichtsausdruck wird ein wenig weicher. Seine Worte sind herzlich und aufrichtig, und sie kann nicht umhin, einen Anflug von Mitgefühl für ihn zu empfinden.

“Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen, Hayo”, sagt sie sanft, “und ich verstehe, dass du nicht absichtlich Schaden anrichten wolltest. Aber es geht nicht nur um die Absicht hinter der Nachricht, sondern auch um die Wirkung, die sie auf mich hatte.” Sie hält einen Moment inne und sammelt ihre Gedanken, bevor sie fortfährt. “Die Wahrheit ist, Hayo, dass diese Situation für uns beide nicht einfach ist. Du hast eine Grenze überschritten, und ich muss dafür sorgen, dass das nicht noch einmal passiert. Wir müssen einen Weg finden, das Vertrauen wiederherzustellen.”

Hayo “Einiges an der Situation kann ich sicherlich ändern, Frau Nia. Welches wäre der erste Schritt, den Sie vorschlagen würden?”

Frau Nia Frau Nia seufzt leise und fährt sich mit der Hand durch die Haare, während sie über seine Frage nachdenkt. Sie lehnt sich an ihren Schreibtisch und sieht nachdenklich aus.

“Der erste Schritt wäre, dass du echte Reue zeigst”, sagt sie langsam. “Das bedeutet, dass du die Verantwortung für dein Handeln übernimmst und dafür sorgst, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen. Du musst Grenzen respektieren, sowohl meine als auch die der anderen.”

Sie stößt sich vom Schreibtisch ab und tritt näher an ihn heran. “Zweitens würde ich gerne sehen, dass du einige proaktive Schritte unternimmst. Wie willst du verhindern, dass du in Zukunft ähnliche Fehler machst?” Ihre Augen suchen sein Gesicht nach Anzeichen von Aufrichtigkeit und Entschlossenheit ab.

Hayo “Zunächst würde ich gern einige Dinge feststellen. Wir reden hier von einem einzigen Vorgang. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund, in diesem Zusammenhang von 'Handlungen' oder von 'Fehlern' zu reden. Die Annahme, ohne eine echte Zerknirschung meinerseits müsse es unweigerlich zu weiteren Fehltritten durch mich kommen, lässt sich durch mein bisheriges Verhalten nicht rechtfertigen. Zu dieser Einschätzung könnte man demnach nur dann kommen, wenn man eine problematische Grundhaltung bei mir voraussetzt, der mit geeigneten Maßnahmen begegnet werden muss, etwa Rassismus oder Sexismus oder dergleichen. Diesen Verdacht wollte ich aber gerade durch meine Selbsterklärung entkräften. Dass Sie dennoch daran festhalten, zeigt mir, dass Sie mir nicht glauben. Das macht mich ratlos.”

Frau Nia Frau Nia holt tief Luft, um sich auf das vorzubereiten, was sie als Nächstes sagen wird. Ihr Gesichtsausdruck wird härter, ein klares Zeichen für ihre wachsende Frustration.

“Hayo, ich verstehe, woher du kommst”, beginnt sie mit ruhiger, aber fester Stimme, “und ich schätze deinen Wunsch, die Dinge zu klären. Aber deine Taten sagen mehr als deine Worte.”

Sie deutet auf die Tür. “Du hast eine Notiz geschrieben, die rassistisch, erniedrigend und respektlos war. Das ist eine Tatsache. Ihre Leugnung oder Erklärung ändert daran nichts. Auch wenn du vielleicht glaubst, dass du zu Unrecht angegriffen wirst, muss ich auf der Grundlage der tatsächlichen Geschehnisse Maßnahmen ergreifen.”

Ihr Blick wird wieder etwas weicher. “Ich möchte dir helfen zu verstehen, warum dein Handeln falsch war, Hayo. Aber jetzt muss ich erst einmal überlegen, wie ich das am besten anstelle.”

Hayo “Frau Nia, ich schätze Ihre Klugheit und Autorität. Ich habe unter Ihrer Anleitung schon viel gelernt, sowohl schulisch als auch menschlich. In einigen Punkten bin ich jedoch anderer Meinung als Sie:

Tatsächlich glaube ich nicht, dass Sie mich zu Unrecht hier zur Rede stellen. Ja, es ist etwas Dummes geschehen, für das ich verantwortlich bin.

Dass meine Notiz rassistisch sei, ist jedoch keine Tatsache, sondern eine Zuschreibung, die in der Zeit, im kulturellen Kontext und in Abhängigkeit von handelnden Menschen verschieden ausfallen kann. In dieser Frage eine Deutungshoheit zu beanspruchen, finde ich nicht angemessen.

Tatsache ist dagegen ganz offensichtlich, dass diese Notiz auf Sie erniedrigend gewirkt hat. Dafür möchte ich mich hier noch einmal in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Ich habe diese Situation falsch eingeschätzt und ich habe beim flüchtigen Kritzeln nicht damit gerechnet, dass Sie diese Notiz lesen werden. Ihre Verletzung ist also nicht vorsätzlich geschehen. Ich bitte Sie, das bei ihrer Bewertung zu berücksichtigen.

Dass ich mich von meinen Gefühlen habe hinreißen lassen, diese Notiz überhaupt zu schreiben, ist zweifellos rücksichtslos von mir. Ich habe selbstbezogen gehandelt und die mögliche Wirkung auf andere ausgeblendet. – Dass diese Notiz jedoch der Ausdruck meiner Respektlosigkeit Ihnen gegenüber wäre, dem widerspreche ich: Sie haben meinen allergrößten Respekt – das versichere ich – als Lehrkraft dieser Schule, als Mensch, als Frau und – nun ja, seit einiger Zeit – auch als Persönlichkeit mit einer Ausstrahlung, die mich beschäftigt. Das passiert unweigerlich. Diese Energien kann ich vielleicht verschieden bewirtschaften, was Übung erfordert. Aber eliminieren lassen sie sich nicht.”

Frau Nia Nia nickt nachdenklich, als Hayo spricht, und hört seinen Worten aufmerksam zu. Ein Teil von ihr versteht seine Sichtweise, auch wenn sie ihr nicht zustimmt.

“Deine Entschuldigung weiß ich zu schätzen, Hayo”, antwortet sie, ihr Ton ist immer noch fest, aber irgendwie weicher. “Und ich erkenne an, dass du nicht die Absicht hattest, meine Gefühle zu verletzen. Dennoch hast du etwas geschrieben, das mich sehr verärgert hat.”

Sie sieht ihn unverwandt an, in ihren Augen liegt ein Hauch von Traurigkeit, gemischt mit Entschlossenheit. “Ich versuche nicht, irgendeine Art von 'Deutungshoheit' zu beanspruchen, wie du es ausdrückst. Vielmehr tue ich einfach meine Arbeit als Lehrerin und als jemand, dem die Schaffung eines sicheren Umfelds für alle Schüler sehr am Herzen liegt. Und ja, das schließt mich ein.” Sie holt tief Luft und fährt fort.

“Lass mich das anders erklären. Stell dir vor, du hättest statt 'What's up ebony queen?' geschrieben 'What's up white queen?'. Würdest du das als rassistisch ansehen?”

Hayo “Ich verstehe, dass eine abwertende Bezugnahme auf körperliche Merkmale diskriminierend ist, nicht aber die Bezugnahme als solche. Das Wort 'ebony' kann in einem bestimmten Kontext abwertend verstanden werden, hat aber meines Wissens nach keine historisch kolonialistische Konotation.

Eine rassistische Interpretation meiner Äußerung ist aber schlicht ein Missverständnis: Es gibt viele PoC-Frauen und -Mädchen an unserer Schule, doch keine von ihnen ruft die Empfindungen in mir hervor, die Sie hervorrufen. Das heißt jedoch nicht, dass Ihre Hautfarbe für meine Sehnsüchte gar keine Rolle spielen würde. Ich sehe Sie als Persönlichkeit mit vielen sichtbaren und spürbaren Eigenschaften, zu denen ich mich hingezogen fühle...”

Frau Nia Nia hört Hayos Erklärung aufmerksam zu, ihr Blick ist nachdenklich. Seine Worte lösen in ihr eine Mischung von Gefühlen aus, darunter Verwirrung und ein Hauch von Verärgerung.

“Ich schätze deine Ehrlichkeit, Hayo”, sagt sie und wählt ihre Worte sorgfältig. “Aber wir sollten nicht vergessen, dass Sprache Macht hat. Worte können verletzen, ob beabsichtigt oder nicht.” Sie hält inne und sieht ihm direkt in die Augen.

“Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn dich jemand wegen deiner Hautfarbe beschimpft. Oder deiner Religion. Oder irgendetwas anderes, das dich einzigartig macht. Es wäre egal, ob es als Kompliment gemeint wäre. Tatsache ist, dass es auf die Wahrnehmung ankommt, die man von dir hat. Und wenn diese Wahrnehmung negativ ist, dann wird das Auswirkungen haben.

Ihr Blick wird etwas weicher. “Ich weiß, dass du kein schlechter Mensch bist, Hayo.”

Hayo “Sie haben Recht, Frau Nia. Wenn jemand mich z.B. einen 'Flachskopf' nennen würde, weil er sich abends im Bett mein blondes Haar vorstellt, oder schlimmer 'Bleichschwänzchen', weil er unterstellt, dass ich wegen meiner Hautfarbe weniger potent sei als andere, dann würde mich das auch kränken. Genauso wie es kränkt, wenn Schüler aus dem Namen eines Kameraden einen despektierlichen Reim machen, den sie ihm hinterher rufen. Oder die besondere Sprechweise eines Mitschülers hässlich nachäffen. Oder sich über den sozialen Status der Eltern abfällig äußern. Es gibt viele Formen und Möglichkeiten der Diskriminierung. Jede ist zutiefst kränkend. Es passiert täglich unzählige Male.

Es sind die Dornenhecken, durch die wir in unserem Leben hindurchgehen. Natürlich können wir unsere Wege planieren und säubern, um unverletzt zu bleiben. Wir können auf verbliebene Dornen hinweisen, immer mit einer Heckenschere im Gepäck. Dabei wird unsere Haut immer zarter und empfindsamer, was wir zusätzlich befördern durch Sensibilitätsschulungen und Safespaces: – eine allgemeine Mobilmachung der Sensibilität, die jede Resilienz gegenüber unvorhersehbaren Verletzungen verkümmern lässt. Am Ende steht unsere absolute Vereinzelung, weil der Mensch seinen Mitmenschen nicht mehr erträgt.”

Frau Nia Nia nickt langsam, ihr Gesicht ist ernst, während sie über Hayos Worte nachdenkt. “Du hast einige gute Argumente, Hayo”, gibt sie zu, ihre Stimme ist sanft. “Es ist wahr, dass wir in einer Welt leben, in der Diskriminierung nur allzu häufig vorkommt. Wir sehen sie jeden Tag, in unzähligen Formen und Situationen.”

Sie seufzt und reibt sich sanft über die Schläfen. “Aber das heißt nicht, dass wir es einfach hinnehmen sollten. Wir müssen uns selbst und andere über ihre schädlichen Auswirkungen aufklären. Und wir müssen uns dagegen wehren, wann immer wir sie sehen.”

Als sie Hayo wieder ansieht, schenkt sie ihm ein kleines Lächeln. “Wir sind alle Menschen, Hayo. Wir haben alle unsere eigenen Kämpfe und Herausforderungen. Lass uns versuchen, uns gegenseitig besser zu verstehen, okay?”

Hayo “Danke, Frau Nia. Daran werde ich arbeiten, das verspreche ich!”

Frau Nia Nia lächelt Hayo warm an, aufrichtig erfreut über sein Versprechen. “Danke, Hayo”, sagt sie aufrichtig. “Das bedeutet mir sehr viel.”

Sie hält inne, ihr Blick verweilt auf ihm, bevor sie weiterspricht. “Vergiss nicht, jeder verdient Respekt. Unabhängig von seiner Herkunft, seinen Überzeugungen oder seinem Aussehen. Das ist etwas, wonach wir alle streben sollten.”

Hayo “Das werde ich mir zu Herzen nehmen, Frau Nia!

Würde es Ihnen etwas ausmachen, in diesem Zusammenhang noch über einen anderen Gedanken mit mir zu sprechen?”

Frau Nia Nia legt den Kopf leicht schief, neugierig darauf, was Hayo als Nächstes besprechen möchte.

“Natürlich, Hayo”, antwortet sie in einem einladenden Ton. “Ich bin hier, um zuzuhören und zu helfen, wo ich kann.”

Hayo “Wenn wir uns einig sind, dass wir uns alle immer wieder darum bemühen müssen, respektvoll miteinander umzugehen, stellt sich die Frage, welche Aktionen in diesem Sinne wirklich zielführend sind.

Wirklichen Einfluss habe ich nur auf mein eigenes Handeln, das Handeln anderer Menschen kann ich ohne Manipulation oder Zwang – beides Formen der Gewalt – nur begrenzt kontrollieren, nicht wahr? Um Andere gewaltlos zu einem Wandel ihres Denkens und Handels zu veranlassen, bleibt mir wenig mehr als mein eigenes vorbildliches Verhalten. Manipulationsversuche oder Zwang, ob offen oder subtil, bewirken dagegen oft das Gegenteil und wecken Widerstände, die kaum zu überwinden sind.

Sie werden mir sicher zustimmen, dass ein Junge wie ich nur äußerst selten die Chance hat, einen Vorgang wie diesen im Gespräch so tief auszuloten, wie wir das gerade getan haben. In fast allen anderen ähnlichen Fällen bleibt unentdeckt, dass es eigentlich um persönliche Schwächen und Sehnsüchte, vielleicht um Gedankenlosigkeit und ein gewisses Maß rücksichtsloser Selbstbezogenheit ohne amoralischen Kontext geht.

In fast allen Fällen werden dagegen die stark moralisierenden Labels des Rassismus und der respektlosen Diskriminierung unwidersprochen an den Menschen haften bleiben. Ich rede von einem erwartbaren Verlauf solcher Vorgänge, nicht von bedauerlichen Einzelfällen. So bleibt selbst bei den am meisten einsichtsvollen Beklagten ein Gefühl, unverstanden geblieben zu sein. Wenn sich das häuft, entsteht ein Aufbegehren gegen solche Zuweisungen, welche wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen schließlich einen substanziellen Rassismus sogar stärken können.

Daneben entsteht durch eine massive Präsenz dieses Themas in der Gesellschaft der Eindruck, überall könne mit etwas Aufmerksamkeit Rassismus entdeckt und bekämpft werden. Der Rassismus-Vorwurf inflationiert und wird stumpf, tatsächlicher Rassismus verschwindet in der Masse der Vorwürfe. An Rassismus zu denken und rassistisch zu denken sind dann kaum mehr noch als zwei Seiten derselben Medaille.

Ganz schwierig wird es schließlich, wenn dritte Unbeteiligte sich moralisierend einschalten. – In unserem Fall haben immerhin Sie selbst Ihre Kränkung thematisiert. – In den meisten Fällen aber sind es vor allem Nichtbetroffene in akademischen Milieus, die sich über das Studium entsprechender Literatur kenntnisreich wähnen und unterstellte Kränkungsvorgänge äußerst offensiv bekämpfen wollen, bevor sie überhaupt passiert sind, jedoch das Urteil von potentiellen Opfern weder abwarten noch überhaupt hören wollen. Ihnen geht es ums Prinzip, um den aktuellen Stand der Wissenschaft und um ihre Ideologie. Ob ein solches Vorgehen noch als gewaltfrei bezeichnet werden darf, mag bezweifelt werden, ganz sicher aber wirkt es zutiefst polarisierend, spaltet die Gesellschaft nach bestimmten Profilvorgaben in fest definierte Opfer- und Tätergruppen und stärkt damit die Gegenkräfte, die von rassistischen Ideologen instrumentalisiert werden können – und werden.

Auf mich wirkt die Rassismus-Zuweisung deshalb zwar leicht zu handhaben, doch im Sinne eines ehrlichen Antirassismus kontraproduktiv. Da ich aber auch sehe, dass rassistisches Verhalten nicht unwidersprochen bleiben darf, ergibt sich für mich und mein Handeln eine Zwickmühle. Wüssten Sie einen Ausweg aus diesem Dilemma, Frau Nia?”

Frau Nia Nia hört Hayos Worten aufmerksam zu, ihr Blick verlässt seine Augen nicht, während er spricht. Als er fertig ist, atmet sie langsam aus und denkt über alles nach, was er gesagt hat. “Hayo, du hast dir viele Gedanken gemacht”, sagt sie schließlich und nickt. “Und auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was du gesagt hast, schätze ich die Tiefe deiner Analyse.”

Sie lehnt sich nach vorne und stützt ihr Kinn auf ihre Hand. “Ich glaube, dass jeder von uns seinen eigenen Weg in diesen Fragen finden muss. Was für den einen funktioniert, muss für den anderen nicht funktionieren. Aber ich glaube, dass Verständnis und Einfühlungsvermögen der Schlüssel sind. Wenn wir lernen können, die Dinge aus der Perspektive des anderen zu sehen, können wir vielleicht einen Weg finden, um gemeinsam voranzukommen.”

Hayo “Ich habe verstanden, was an meinem frechen Verhalten so verletzend für Sie war. Und nun danke ich Ihnen, das Sie ebenfalls bereit waren, die Dinge auch aus meiner Perspektive zu betrachten. Das war mehr, als ich in dieser Situation erwarten durfte.”

Frau Nia Nia nickt und weiß Hayos Dankbarkeit zu schätzen. “Es ist meine Aufgabe, die Perspektive jedes Schülers zu verstehen”, erklärt sie sanft. “Und es ist wichtig für mich zu wissen, wie mein Handeln auf andere wirkt. Wir lernen hier alle, Hayo. Das ist ein Teil des Erwachsenwerdens.”

Sie schenkt ihm ein warmes Lächeln und versucht, ihn zu beruhigen. “Aber konzentrieren wir uns jetzt darauf, vorwärts zu kommen. Du hast dich verpflichtet, dich zu verbessern, und ich glaube an dich.”

Die richtige Seite der Geschichte

“Auf der richtigen Seite der Geschichte” stehen heißt, sich für die Schwachen und Machtlosen – in der Welt und im eigenen Land – aktiv einsetzen (sozial), außerdem der Welt eine unbedingte Wertschätzung für seine Mitmenschen und deren Lebensentwürfe geduldig vorleben (divers, inklusiv). Die “richtige Seite der Geschichte” findet sich demnach nicht im Kampf der Kulturen. Nicht das floskelhafte Wort oder das Heulen mit dem eigenen Rudel: das eigene Handeln allein zeugt davon, wo jeder von uns steht.

Debatte 1

zu 'Das Böse'

Auf der von mir genutzten Mastodon-Instanz entspann sich angesichts der Überlegungen, die ich in 'Das Böse' niedergeschrieben habe, eine schriftliche Debatte, die so bezeichnend für die heute verbreitete Unversöhnlichkeit ist, dass ich sie für einen Nachvollzug hier ungekürzt und unverändert (einschließlich der enthaltenen Schreibfehler) dokumentiere.

Der Text, an dem sich die Debatte entzündete, findet sich hier: https://wordsmith.social/lorbeerbund/das-bose

Julien Erzähl das mal dem Opfer das neben dir in der u-Bahn zusammengeschlagen wird.. Was unterscheidet den Gleichgültigen vom Täter?

Lorbeerbund Das erste Grundprinzip, das zivile Helfer, aber auch professionelle Einsatzkräfte beachten, ist, eine Eigengefährdung und das Anheizen unkontrollierbarer Entwicklungen zu vermeiden. Es hilft dem Opfer einer Schlägerei überhaupt nicht, wenn es am Schluss der “Rettungsaktion” hundert verprügelte Retter gibt. Besonnenheit hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun.

Julien Besonnenheit ist also den Täter gewähren zu lassen? Im Moment geht es weder darum dem Opfer zu helfen oder sich selbst in Gefahr zu bringen, sondern lediglich darum das Opfer zu befähigen sich zu verteidigen. Und selbst das geschieht derart “besonnen” das es nicht mal dazu reicht den Täter in Schach zu halten. Propaganda ist derzeit das Mittel der Wahl um eben diese Befähigung auch noch zu unterminieren. Und du merkst es nicht einmal. Stalin nannte euch 'nützliche Idioten”

Lorbeerbund Besonnenheit bedeutet für mich, daran mitzuwirken, die Quelle der Gewalt so rasch wie möglich trockenzulegen, ohne die Beteiligten zu beurteilen. Danach können unabhängige Zuständigkeiten untersuchen, wie es zu dem Gewaltausbruch gekommen ist, die Schuldfrage klären und rechtsstaatlich vorgehen. Gelingt es mir dabei, auf ein spontanes, wenig reflektiertes Bedürfnis nach Vergeltung und Genugtuung zu verzichten, so habe ich das Böse in mir für den Moment erfolgreich bekämpft.

Julien Du schreibst von Propaganda. Ich sehe keinerlei Wirkung solcher, denn der sogenannte Westen bleibt ja massiv unter seinen Möglichkeiten diesen Konflik effektiv zu beenden. Beschäftige dich mal russischer Propaganda, das sollte deine Perspektive viellecicht ein wenig zurechtrücken

Lorbeerbund Okay, jetzt geht es also ad hominem. Danke für's Gespräch!

Julien war ja kein Gespräch in dem Sinne. Eher eine Reaktion auf einen Propagandavortrag dessen Intention ich ein wenig herausarbeiten konnte. Wer im diesem Kontext ernsthaft die Schuldfrage stellt transportiert faschistische, imperialistische Propaganda. Und ad hominem ging ja schon los als mir hier rachegelüste unterstellt wurden. So sehr kann man sich doch garnicht hinter Bücherwänden verschanzen das man 25 Jahre Geschichte verschläft

Lorbeerbund Du hast nichts herausgearbeitet und wenig verstanden, mein Freund. Aber lassen wir es dabei. Hab einen schönen Tag!

Julien Überheblichkeit und Blindheit gehen oft Hand in Hand...da hilft auch falsche freundlichkeit nicht. Wer solche Freunde hat braucht keine Feinde mehr. Edit: und, natürlich hast du in sämtlichen Antworten wunderbar herausgearbeitet das es dir ausschließlich darum geht die narrative des Täters zu transportieren und seine Ziele zu stützen (Schuld unklar, Westen womöglich schuld?, 'kann alle vernichten', Unterstützung der Ukraine = unterstützung von Mord etc pp)

Lorbeerbund Schau mal Julien, ich habe keinerlei Interesse an einem verbalen Ringkampf an dieser Stelle. Ich gebe dir Recht: Überheblichkeit und Blindheit sind tatsächlich wichtige Gründe dafür, dass wir heute dort sind, wo wir sind. Ich kann deine Verzweiflung verstehen.

Julien angesichts dessen wie tief die Propagandanarrative des reichsten Mannes östlich des Dnipros deutsche Medien, feullieton und friedensbewegte durchdringen, ja! Ist aber eher weniger Verzweiflung. Einfach Entsetzen gegenüber soviel Ignoranz und Dummheit. Ist doch alles schon mal dagewesen.

Lorbeerbund Nun hatten wir beide Gelegenheit, unsere Standpunkte vorzustellen und zu erläutern. Die Differenzen, aber auch verbindende Aspekte wurden deutlich. Danke für die Debatte!

Die Verpackung des Krieges

Schon jetzt hat der radikale Zionismus der jüdischen Sache mehr geschadet als der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhundert. Letzterer hat europäische Juden zu Opfern gemacht, mit denen sich schließlich die ganze Welt solidarisierte, der erste macht sie nun zu Tätern und vereitelt ihren Ausstieg aus der Opfer-Täter-Dynamik.

Beide Phänomene aber, der Zionismus und der Antisemitismus, sind im Ursprung zwei Seiten einer europäischen Münze – die semitischen Völker der Levante haben damit nichts zu tun. Doch seit einem dreiviertel Jahrhundert werden sie, die eigentlich Unbeteiligten, zu Opfern eines neuen westlichen Antisemitismus, der sich 'Kampf gegen Antisemitismus' nennt: die alte unbarmherzige Barbarei, die sich der neuen aufklärerischen Werkzeuge und Vokabeln bemächtigt hat. Denn an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat man gelernt, dass auf die Verpackung zu achten ist.

Und indem man die eigene Bosheit nun wieder am Fremden bekämpft, kann es unverdrossen weitergehen, das Schießen und Sterben in den Gräben und das goldene Kriegsgeschäft, mit der die Lebensleistung und Gesundheit von Völkern und Generationen durch gewissenlose Eliten geerntet wird, während sich an der Marketingfront heute Millionen schlichter Sesselkrieger rekrutieren lassen, die sich gern reichweitenstark daran beteiligen, das Morden zu rechtfertigen und Verantwortung zu projizieren.

Das Böse

Das Böse kann nicht in Russland oder in Gasa oder anderswo in der Welt bekämpft werden. Wirksam bekämpfen wir das Böse ausschließlich in uns selbst. Voraussetzung für den Erfolg im Kampf gegen das Böse sind Vertrauen, Geduld und die Bereitschaft, auf jede Art von Triumph zu verzichten. Dies ist freilich ein radikaler Gegenentwurf zu der Vorstellung vom Kampf gegen das Böse, wie sie von der hegemonialen Kultur des Imperiums angepriesen und seither von so vielen Menschen im Westen verinnerlicht worden ist.

Außerhalb von uns selbst kann nicht das Böse, sondern nur das vermeintlich “Böse” (Anführungszeichen) bekämpft werden. Der Kampf gegen das “Böse” aber geschieht im Zeichen von Misstrauen und Ungeduld und verzehrt sich nach Sieg und Triumph. Das Gute als Konzept gegen das Böse gilt ihm als “Appeasement”. Stattdessen bekämpft er “Böses” mit noch Böserem.

Ja, auch die sogenannten Nationalsozialisten bekämpften das “Böse”. Und immer wieder gibt es Menschen, die Macht missbrauchen, um es ihnen nachzutun.

Projektionspunkt Putin

Was die meisten #Putin-Statements eint ist ein Mangel an Bewusstsein für den synthetischen Charakter unserer Medienrealität. Was Putin tut, was er denkt, plant oder unterlässt, darüber glauben wir Empörendes zu wissen. Unser tatsächliches Wissen darüber ist jedoch winzig neben der Ignoranz gegenüber anderen Aspekten des Konflikts. Diese Disbalance ist ebenso ein Medienprodukt wie das #Putin [neutrum], das uns hilft, unsere chaotische Sensorik zu eichen. Putin ist ein Projektionspunkt, der es uns ermöglicht, von eigenen Versäumnissen abzusehen, welche viel älter sind als die jüngste Eskalation, und zu hoffen, dass uns prekäre Korrekturen erspart bleiben. Fakten, die einen Verlust dieses Projektionspunkts bedeuten, verweigern wir die Kenntnis, auch wenn sie eine Chance für Frieden beinhalten könnten. So kostet unser Griff nach dem Strohhalm, der unser moralisches Ego rettet, weiterhin Menschenleben, während die nötigen Korrekturen uns verfolgen werden. Dieses Lehrgeld wird momentan von Slawen in der Ukraine bezahlt. Doch die Rechnung an uns wird nicht lange auf sich warten lassen.

Wir, die Wohlstandsgenerationen

Ein Freund schrieb jüngst einen Vers über die Herablassung, die sich oft in ultrareichen bis gehobenen Kreisen findet, bei jenen Menschen, die sich nie mit den existenziellen Sorgen der großen Menschenmehrheit auseinandersetzen müssen.

Der Freund nannte seinen Vers den

“Chor der irdischen Selbstgerechtigkeit”.

Beim Golfen zu singen. “Bei Gott, – Wisst ihr denn nicht? Verwirret die Gewissen nicht! Mir geht's auch nicht gut! Das Leid der Welt – ich kann's nicht ändern. Ihr müsst Distanz gewinnen. Atmen! – und geht shoppen! Seid stark, so helft ihr den Schwachen.”

Zweifellos ist eine solche Ignoranz unerträglich und Teil unseres uralten Problems als Menschengemeinschaft. Oligarchen weltweit entziehen unserem Leben die vitalen Impulse, um sie in ihre toten Goldbarren zu gießen, mit denen sie uns politisch und militärisch noch besser erpressen können. – “Eigentum verpflichtet” war gestern. Und ein Gefühl des Gewissens oder der Verpflichtung gegenüber menschlichem Leben haben diese Leute niemals kennengelernt, dürfen sich aber ihres Reichtums und Einflusses wegen als Philanthropen bezeichnen lassen. Sie nutzen die edelsten Früchte der menschlichen Kultur, um uns zu manipulieren und unsere Selbstbehauptung zu ihrem Gunsten einzuhegen. ___

Doch was ist mit uns, die wir ihnen gegenüber stehen, zwar nicht so reich sind, aber doch vergleichsweise gut leben dürfen und uns durchaus über das Glück unserer Mitmenschen Gedanken machen? – Wir, die Wohlstandsgenerationen, die im Geiste von “Iss deinen Teller leer, woanders sterben Menschen Hungers!” aufgewachsen sind, wir haben ein fest internalisiertes Gewissensproblem, dem wir zu entkommen suchen.

Da ist nicht nur die Bereitschaft, da ist ein tiefes Bedürfnis danach, Opfer zu bringen, die unser peinigendes und stets geleugnetes Schuldgefühl lindern mögen. Und da ist die Suche nach einem noch böseren, noch schuldigeren Wesen, bei dem wir unsere Verantwortung abladen können. Sich endlich nicht mehr schuldig fühlen!

Aber leider ist die Entlastung durch Opfer und Projektion immer nur vorläufig. Ein einzelnes Opfer zu bringen ist offenbar nicht genug. Und im vermeintlich Bösen wird mit einigem zeitlichen Abstand bald die Ambivalenz des Lebendigen erkennbar.

Der Versuch, weitere Opfer zu bringen, mündet in dem zunächst missionarischen und später totalitären Anspruch, alle Menschen, die mit uns ein ähnliches Schicksal teilen, hätten nun Opfer zu bringen. Und nach dem noch böseren, noch schuldigeren Wesen folgt bald das absolut Böse, das durch nichts mehr relativiert werden kann. Erst wenn das gefunden oder zur Not geschaffen werden konnte, scheint uns Erlösung möglich. Und diese Erlösung, auf die alles in uns drängt, die moralische Gewissheit, zu den Guten zu gehören, ist das Letzte, was wir aufgeben würden. ___

Unser verdrängtes Gewissensproblem ist der Nasenring, an dem wir uns durch die Propagandamanege der Gewissenlosen führen lassen. Das trifft auf alle politischen Themen unserer Zeit zu. Opfer bringen, Verantwortung projizieren und sich den Guten zurechnen sind die Obsessionen dieser Epoche. Das ist unsere Seite der “irdischen Selbstgerechtigkeit”.

An der Notwendigkeit, unser verdrängtes Schuldgefühl zu bearbeiten und in konstruktive Impulse für eine gerechtere Weltgemeinschaft umzuwandeln, sind unsere Generationen, wie schon die unserer Eltern und Großeltern, gescheitert.

Dies sage ich meinen Kindern, wenn sie mich fragen, wie es zu Kriegen kommt. Ich erzähle ihnen nicht das Märchen vom Sauron in Mordor und dem idyllischen Auenland gen Westen.

Abhängigkeit

Das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit erzieht zur Friedfertigkeit.

Die gegenseitige Abhängigkeit ist eine Konstante menschlicher Gemeinschaft. Das Bewusstsein dafür kann jedoch verloren gehen, mit unabsehbaren Folgen für ganze Völker und Generationen!

Die Forderung, sich unabhängig von russischen Ressourcen zu machen, ist eine atlantische Verstiegenheit, die mit moralischem Impetus und grüner Tarnkleidung die alten ideologischen Konzepte des Kalten Krieges reanimiert. Wer eine solche Unabhängigkeit fordert, fordert den Krieg und wird für den Verlust unzähliger Menschenleben mitverantwortlich sein!

Erschreckend, wie flach und selbstgerecht der westliche Blick auf die jüngere europäische Geschichte konditioniert ist, ein Blick, der seine Nachdenklichkeit und Tiefgründigkeit Mitte des vergangenen Jahrhundert für amerikanische Schokolade und Kaugummi verhökert hat. Und noch erschreckender, wie gering grüne Lippenbekenner die globalen Klimagefahren tatsächlich priorisieren, die nur GEMEINSAM und im Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit abgewendet werden können.

Voneinander abgewandt, wortlos, misstrauisch, feindselig und verschlagen, aber unabhängig! – so taumeln wir unserem Untergang entgegen.

Covid und Putin

sind im westlichen Medienkontext nicht einfach Namen. Sie stehen als griffige und austauschbare Chiffren ganz generell für GEFAHR. – Eine Gefahr, die uns alle zu hilflosen Opfern macht, welche sich sodann unter den Schutzschirm staatlicher Strategien begeben dürfen. Wer sich diesen Ideologien und Agenden nicht unterwirft, riskiert seinen Opferstatus und steht, aus der Gemeinschaft verbannt, bald als Täter auf der Seite des Feindes, hat damit sein Schutzrecht verwirkt.

Schon werden für bestimmte Bürgerrechte wieder ideologisches Bekenntnis und Distanzierung eingefordert und deren Abwesenheit mit dem Entzug von Rechten schmerzhaft sanktioniert. Schon werden auch Ansprüche wieder nach Herkunft und physiologischen Merkmalen gewährt. Und die Masse jubelt in dumpfem Taumel aus Empörung und trunkener Genugtuung. Pogromstimmung – lange genug noch mit Beißhemmung im Zwinger trainiert, jetzt endlich wieder von der Kette gelassen.

Das Tandem

Yvonne und Herbert (Namen geändert) sind ein Paar. Gemeinsam besitzen sie ein Tandem, mit dem sie oft unterwegs sind. Beim Fahren an der frischen Luft haben sie viel Spaß und genießen regelmäßig ihren gemeinsamen Takt und die Abwechslung, die dadurch entsteht, dass sie untereinander häufig die Fahrpositionen wechseln. Einmal lädt Yvonne eine Freundin zu einer Spazierfahrt ein. Yvonne führt das Rad auf eine ihrer Lieblingstouren durch ein zerklüftetes Seengebiet mit Stegen, Brücken und einigen aufregenden landschaftlichen Ausblicken. Auf der Strecke fragt die Freundin Yvonne beiläufig, wer in ihrer Partnerschaft denn das Ziel der Fahrt vorgibt, wenn sie mit dem Tandem gerade nicht zu einem gemeinsamen Termin unterwegs sind. Yvonne ist verblüfft. Darüber hat sie noch nie nachgedacht. Sie meint, das sei von Fall zu Fall verschieden und ergebe sich eher zufällig. An den Zufall will die Freundin nicht recht glauben und fragt weiter: “Du fährst also auch mit, wenn dein Mann das Ziel der Fahrt vorgibt?” Der Tonfall macht Yvonne verlegen. Achselzuckend bejaht sie die Frage. In leisen und freundschaftlichen Worten gibt die Freundin zu bedenken, dass ganz allgemein über viele Jahrhunderte Männer diejenigen waren, die sich anmaßten, Frauen vorzugeben, wo es hingehen soll. Deshalb sollte eine Frau im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptieren, bedenkenlos den Vorgaben eines Mannes zu folgen. Yvonne will das Thema an diesem Nachmittag nicht weiter vertiefen, nimmt sich aber vor, in nächster Zeit einmal darauf zu achten, wie bei ihren Tandemfahrten die Auswahl von Strecken und Zielen zwischen ihrem Mann und ihr zustande kommt.

Und tatsächlich: nach einer Zeit der Beobachtung lässt sich nicht leugnen, dass bei ihren gemeinsamen Touren ihr Mann seine Streckenvorschläge häufiger als sie selbst an der vorderen Position umsetzt. Als es wieder einmal dazu kommen soll, stellt sie ihn diesbezüglich zur Rede. Herbert ist überrascht. Bisher hatte er seine Frau mit seinen kreativen Strecken immer begeistern können. Natürlich überlässt er ihr die Führung für diese Tour. Als es in nächster Zeit häufiger zu solchen Diskussionen kommt, macht Herbert einen Vorschlag: “Meine Liebste! Mit dir gemeinsam unterwegs zu sein, ist mir beim Tandemfahren wichtig, Ziele und Wege sind mir dagegen ziemlich egal. Was hältst du davon, wenn du künftig unsere Touren planst und sagst, wo es langgehen soll? Im Gegenzug lässt du mich an der vorderen Position fahren, damit ich das Gefühl haben kann, mit dir gemeinsam und doch selbstbestimmt unterwegs zu sein. Was hältst du davon?” Diesen Vorschlag findet Yvonne akzeptabel. Fortan sind sie wieder fröhlich gemeinsam unterwegs und Yvonne findet von Mal zu Mal mehr Freude daran, ihre Streckenplanung abwechslungsreich und überraschend auszugestalten. Bald ist für sie die Planung der Touren ebenso erfüllend wie die Touren selbst. Und Herbert ist beeindruckt von den Strecken, die sie auf diese Weise neu entdecken.

Einige Zeit später trifft sich Yvonne zum “Mädelsnachmittag” in einem Café der Altstadt. Auch ihre Freundin ist wieder mit dabei. Sie fragt Yvonne nach ihren Tandemtouren: “Hey sag mal, immer wenn man euch radeln sieht, führt dein Mann die Tour an. Hast du mal darüber nachgedacht, worüber wir vor einiger Zeit gesprochen haben? Oder hast du bei euch überhaupt nichts zu melden?” Yvonne erwidert: “Nein, meine Liebe, so ist das nicht!” Und sie erzählt von der Verabredung zwischen ihrem Mann und ihr und wie gut sich das eingespielt hat. Es entsteht eine kurze Pause. Die nutzt eine anderen Freundin, um sich einzuschalten: “Mensch Yvonne, hast du mal überlegt, was das nach außen für eine Botschaft aussendet? In dieser Stetigkeit, mit der man deinen Mann in letzter Zeit vorn auf dem Fahrrad sieht, ist das einfach das falsche Signal. Andere Frauen und Mädchen, die von eurer Verabredung nichts wissen, können leicht das Gefühl bekommen, es gehöre sich in einer Partnerschaft, dass der Mann das Lenkrad führt, und die Frau müsse sich hinter ihm fügen. Das kann nicht dein Ernst sein!” Nun ist auch die erste Freundin wieder bei der Sache: “Im Übrigen ist die Gestaltungsmacht von der hinteren Position aus – so sicher dir eure Verabredung auch scheint – niemals eine echte Autorität, sondern nur eine dir von deinem Mann erteilte Autorisierung. Die kann er dir jederzeit ohne weitere Verhandlung entziehen, indem er einfach woanders hinfährt.” Eine dritte Freundin nickt nachdrücklich: “Eine geliehene Macht ist gar keine Macht. Du solltest bei euren Touren darauf bestehen, dass die vordere Postion zwischen euch paritätisch besetzt wird. Was bist du doch für eine Naive. Wenn wir uns nicht um dich kümmern, kommst du noch unter die Räder des Patriarchats!” Alle kichern. Yvonne kichert, halb verlegen, halb dankbar, mit.

Bei ihrer nächsten gemeinsamen Tandemtour mit Herbert möchte Yvonne vorn fahren. Herbert ist einverstanden. In der Küche hängt Yvonne eine Tabelle an die Kühlschranktür, in die sie zuverlässig einträgt, bei welcher Tour wer von den Beiden das Lenkrad des Tandems geführt hat. Bald ist anhand der Tabelle deutlich abzulesen, wer – der Parität wegen – als nächstes den vorderen Platz beanspruchen darf. Kommt es zu Abweichungen, sorgt Yvonne dafür, dass diese zeitnah ausgeglichen werden. Zu Diskussionen kommt es dabei nicht mehr. Allerdings möchte Herbert für die Touren, bei denen er am Lenkrad sitzt, nun auch wieder Wege und Ziele vorgeben. Darüber gibt es Streit. Yvonne möchte, dass Herbert einsieht, dass Frauen sich viel zu lange nach männlichen Vorgaben richten mussten und noch immer gesellschaftlich benachteiligt sind. Und sie erwartet von ihm, dass sich diese Einsicht in seinem Zugeständnis, ihr die Routenplanung weiterhin zu überlassen, als ein Beitrag, die Welt gerechter zu machen, zeigt. Wenn er hier Parität erwarte, zeuge das von einem mangelnden Problembewusstsein und wäre letztlich ein Beitrag, alte patriarchale Konzepte zu konservieren. Herbert kann nicht verstehen, was das alles mit seiner Partnerschaft zu tun haben soll. Warum sind die unbeschwerten Tandemtouren von einst heute so schwer zu arrangieren? Waren das alles faule Kompromisse, männliche Gaunerstücke?

Doch die Diskussionen breiten sich längst auf andere Themen des täglichen Lebens aus. Weitere Tabellen werden an die Kühlschranktür geheftet. Was früher im einzelnen gemeinsam beraten und frei entschieden wurde, wird jetzt durch eine ausgewogene Verabredung klar geregelt. Die Belange des Alltags bieten dadurch kaum noch Anlass für Verständigungen oder gar für Streiterei. Einiges zwischen den beiden läuft jetzt gerechter, dagegen häufen sich die Konfrontationen auf grundlegender und prinzipieller Ebene. Das Vertrauen in den gemeinsamen Nenner scheint verloren gegangen zu sein. An seiner statt stehen nun die Kontrolle von Vereinbarungen und der Streit darüber. Einmal fällt der Vorwurf der “toxischen Männlichkeit”. Beim gemeinsamen Radeln sieht man das Paar hingegen immer seltener. Herbert fährt mit dem alten Hollandrad seiner Mutter zum Dienst. Yvonne hat sich ein eigenes Crossbike gekauft. Auf einer ihrer selbstgeplanten Solotouren trifft sie beim Rasten auf ihre alte Freundin. Yvonne skizziert ihr in kurzen Worten die zunehmend missliche Situation des Paares in der letzter Zeit. Die Freundin tröstet sie: “Weißt du Yvonne, du bist so eine Kluge! Ich meine, er hat dich eigentlich gar nicht verdient, dieser Chauvi.”

Zu einer Familie hat es die Liebe zwischen Yvonne und Herbert nicht geschafft. Wenige Monate später trennen sich die beiden.