Der Bremsweg von Zügen
Es gibt einen Unterschied zwischen Auto und Eisenbahn, der im Fahrbetrieb kritisch ist. Gleichzeitig ist das ein Faktor bei der Eisenbahn, der von Laien ständig extrem unterschätzt wird.
Der Bremsweg.
Der ist im Vergleich vor allem zum Pkw extrem viel länger.
Ein Reisezug, der 160 km/h fährt, hat einen Bremsweg von mindestens einem Kilometer. Und das ist dann schon eine Schnellbremsung – das, was bei der Eisenbahn einer Vollbremsung beim Auto entspricht. Nicht die Vollbremsung, die man aus der Fahrschule kennt, wo man aus 100 km/h nach 100 Metern steht, sondern die Vollbremsung, wie sie von Testfahrern durchgeführt wird, wo man aus 100 km/h nach 37 Metern steht. Bei entsprechend schweren, aber langsameren Güterzügen ist der Bremsweg trotz geringerer Geschwindigkeit ähnlich lang. Hochgeschwindigkeitszüge brauchen von Höchstgeschwindigkeit bis zum Stillstand mehrere Kilometer.
Dem Autofahrer wird das jetzt entsetzlich lang vorkommen – unverständlicherweise. Wieso können Züge nicht schneller bremsen?
Dafür gibt es einige Gründe, zunächst einmal technische und physikalische.
Erstens: Eisenbahnfahrzeuge sind viel schwerer als Autos, ganze Züge erst recht. Eine Lok oder ein voll beladener Güterwagen trägt auf einem einzelnen Rad mehr als viermal so viel, wie ein ganzes Oberklasse-SUV wiegt. Auf einem einzelnen Rad. Von normalerweise mindestens acht.
Auf die Massen bei der Eisenbahn bin ich an dieser Stelle schon weitreichend eingegangen.
Zweitens: Die Bremsen sprechen langsamer an. Auf jeden Fall nicht so blitzschnell und verzögerungslos in Echtzeit wie beim Pkw.
Die Funktionsweise von Eisenbahnbremsen – und warum sie anders funktionieren als beim Pkw – habe ich in diesem Artikel eingehend erklärt.
Drittens: Mit Stahlrädern auf Stahlschienen sind keine so kurzen Bremswege möglich wie mit luftgefüllten Gummireifen auf Asphalt. Trotz um ein Vielfaches höherer Achslasten ist der Grip sehr viel geringer.
Näheres zu diesem Thema findet sich in diesem Artikel.
Es gibt übrigens ein sehr schönes Video, in dem der Bremsweg zwischen einem koda Roomster und einer österreichischen Hochleistungsellok direkt verglichen wird, indem beide Fahrzeuge direkt nebeneinander gleichzeitig aus 100 km/h bis zum Stillstand abbremsen. Die Lok hatte schon ohne Wagen einen um ein Vielfaches größeren Bremsweg. Nicht auszudenken, wie der Vergleich ausgefallen wäre, hätte die Lok einen über 700 Meter langen und über 2.000 Tonnen schweren Güterzug am Haken gehabt.
Ein zweites Video gibt es aus Deutschland aus den späten 80er oder frühen 90er Jahren mit einem noch krasseren Massenunterschied: Ein Citroën AX (1 Tonne) und ein lokbespannter Nahverkehrszug (ca. 160 Tonnen, reine Druckluftbremsen) bremsen aus 80 km/h ab. Wenn man sich das Video ohne Ton ansieht, also das Kreischen der Klotzbremsen nicht hört, hat man anfangs den Eindruck, der Zug bremst gar nicht.
Viertens: Auch wenn diejenigen unter Ihnen, die teure, leistungsstarke, schnelle Autos fahren, es vehement abstreiten dürften: Oft genug fahren Züge in vergleichbaren Situationen sehr viel schneller als Autos. Das trifft nicht nur auf Schnellfahrstrecken im Vergleich zu Autobahnen zu, wo ICEs im Gegensatz zu Autos zig Kilometer weit konstant 250 oder gar 300 km/h fahren.
Viel extremer ist es innerorts: Für die Eisenbahn gibt es keine Beschränkung auf 50 km/h in geschlossenen Ortschaften. Wo für Autos schon 70–80 km/h halsbrecherische Raserei sind, fahren Züge selbst dann noch bis zu 160 km/h, wenn es Bahnübergänge gibt. Und genau an denen sind solche Fehleinschätzungen fatal: Immer wieder müssen Autofahrer an Bahnübergängen unbedingt geschlossene Halbschranken umfahren, weil sie partout nicht die paar Minuten warten wollen. Der Deutsche ist ja notorisch ungeduldig. Wenn der Zug schon kommt – soll der eben bremsen. Das tut der auch, er legt eine Schnellbremsung hin. Aber weil er erst hunderte Meter weiter zum Stehen kommt mit dem völlig zerstörten Auto vor der Pufferbohle (oder auf die automatische Kupplung aufgespießt), macht es auf die anderen Autofahrer den Eindruck, als würde er in den illegalen Bahnübergangsquerer ungebremst hinein-„rasen“. Und die Presse, zumeist durchweg eisenbahnunkundige Autofahrer, schreibt das dann auch so.
Jetzt stellen Sie sich mal vor, auch für die Bahn gilt auf einmal „Tempo 50 in geschlossenen Ortschaften“ – zum Schutz derjenigen, die unbedingt geschlossene Bahnübergänge überqueren müssen, ganz im Sinne der Vollkaskomentalität. Stellen Sie sich mal das Geschrei vor, wenn ICs zwischen Dortmund und Köln auf einmal die drei- oder vierfache Zeit brauchen, weil sie da überwiegend innerorts fahren. Oder wenn Sie mit dem ICE-Sprinter von Frankfurt ohne Zwischenhalt bis Hannover nach Hamburg fahren – und der Zug trotzdem vor Fulda, Kassel und Göttingen aus 250 km/h auf 50 km/h herunterbremst. Bei der Bahn gibt’s nämlich keine „Toleranz“ und kein „Sind eh keine Bullen und keine Blitzer da“ – jede Höchstgeschwindigkeit wird rigoros eingehalten.
Fünftens: Selbst wenn Reisezüge so scharf abbremsen könnten wie Sportwagen – sie dürften es nicht. Die Unfallgefahr im Wagen wäre viel zu groß. Das fängt an beim Reisegepäck. Im Auto ist das immer relativ sicher verstaut. Im Zug würden Koffer, Taschen und dergleichen beim Abbremsen mit einem Vielfachen der Erdbeschleunigung sofort zu Geschossen – im Falle riesiger, prall gefüllter Hartschalenkoffer sogar zu sehr schweren Geschossen.
Menschen wiederum sind im Sportwagen in halb sitzender, halb liegender Position in ihren Sitz hineingezurrt. Bei der Bahn gibt es nicht nur keine Sicherheitsgurte, sondern Passagiere und Bahnmitarbeiter, die im fahrenden Zug stehen oder gar laufen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen in einem 300 km/h schnellen ICE auf Toilette, und während Sie unterwegs sind, bremst der Zug brutal ab – auf 200 m Strecke von 300 km/h bis zum Stillstand, ein Wert, den Sportwagen tatsächlich schaffen können. Da werden Sie meterweit ungehalten durch den Wagen fliegen und gegen eine Wand oder Tür knallen.
Jede derart starke Schnellbremsung hätte Tote und Verletzte zur Folge. Und Schnellbremsungen passieren häufiger, als Sie glauben.
Fazit: Weder können Züge so schnell abbremsen wie Autos, noch werden sie es je. Damit muß man sich einfach abfinden – und sich beim Überqueren von Gleisen entsprechend verhalten.