Schienenfahrzeuge sind breiter, als man denkt
Es gibt einen weiteren Irrglauben bezüglich Schienenfahrzeugen, der weit verbreitet ist: Sie sind so breit wie die Schienen. Das ist jetzt in Hamburg erstmals einem Autofahrer tatsächlich zum Verhängnis geworden.
Ich frage einfach mal diejenigen unter Ihnen, die sich nicht gerade als Eisenbahnexperten bezeichnen: Was glauben Sie, wie breit Schienenfahrzeuge sind? Vor allem, wenn Sie tatsächlich ein Gleis sehen – was glauben Sie, ohne jetzt im Internet nach Bildern zu suchen, rein aus dem Bauchgefühl heraus, wie breit Schienenfahrzeuge im Verhältnis zu den Schienen sind?
Räder bei der Eisenbahn ganz außen?
Ich wage einfach mal zu behaupten, viele glauben, daß Schienenfahrzeuge maximal so breit sind wie die Schienen. Ist ja klar: Bei Straßenfahrzeugen – die nicht gerade IFA W50 heißen – sind die Räder immer ganz außen. Die Karosserie steht nie sonderlich über die Räder über.
Und das wird gern auf Schienenfahrzeuge aller Art übertragen. „Naive“ Zeichnungen von Eisenbahnfahrzeugen zeigen sie immer mit den Rädern ganz am äußersten Rand – oder sogar außerhalb der Aufbauten. Manchmal führt das zu einer enormen Spurweite beim Gleis, viel häufiger aber werden Eisenbahnfahrzeuge in Pkw-ähnlichen Dimensionen gezeichnet. Auch LEGO hat seine Eisenbahnfahrzeuge seit jeher mit den Rädern ganz außen gebaut von den ersten schienenlosen Schiebeloks auf Gummirädern bis hin zu Supermodellen wie Super Chief, Emerald Night oder TGV. Dasselbe gilt fast durchweg für die Holzeisenbahnen von Brio, Eichhorn & Co. – mitunter stehen die Räder sogar komplett außerhalb der Aufbauten.
Nun werfen wir einmal einen Blick auf die Realität. In Deutschland, fast überall sonst in Europa und auch in vielen anderen Ländern der Welt gibt es die sogenannte „Normalspur“ mit einer Spurweite von 1435 mm – das ist der lichte Abstand zwischen den Innenseiten der Schienenköpfe. Wenn man die Schienenköpfe selbst dazurechnet und annimmt, die Räder von Eisenbahnfahrzeugen ragen nicht signifikant über die Schienenköpfe hinaus, kann man leicht zum Trugschluß kommen, Eisenbahnfahrzeuge seien nur etwa anderthalb Meter breit.
Zugegeben, wenn man Eisenbahnfahrzeuge von der Seite sieht, und meistens sieht man sie mehr oder weniger von der Seite, kann man kaum abschätzen, wie weit die Aufbauten über die Räder und damit die Schienen überstehen. Aber von vorne oder hinten sollte man es eigentlich deutlich sehen können.
Jetzt kombinieren wir das einmal mit der Ungeduld mancher Autofahrer an Bahnübergängen – und einer kombinierten Straßen- und Schienenbrücke, in diesem Fall der Kattwykbrücke in Hamburg. Die ist eine zweispurige Straßenbrücke, aber genau in der Mitte ist ein elektrifiziertes Eisenbahngleis eingelassen, das die Hohe Schaar mit Hausbruch und im weiteren Verlauf den westlichen Hafenanlagen verbindet. Wenn ein Zug die Brücke passiert, ist sie in beiden Richtungen für den Straßenverkehr voll gesperrt. Und das dauert mehrere Minuten, zum einen, weil Züge auf der Brücke nicht mehr als 30 km/h fahren dürfen, zum anderen, weil die Brücke für Straßenfahrzeuge nicht erst in dem Augenblick geschlossen wird, wenn der Zug schon kurz vor der Brücke ist.
Als Autofahrer sieht man die Bilder von der Brücke und denkt sich: „Was soll der Zirkus? Da ist doch jede Menge Platz links und rechts von den Schienen! Da passen doch locker Autos und Züge gleichzeitig durch!“
Und die Realität schlägt wieder einmal hart zu
Genau das dachte am Wochenende ein Autofahrer, als er vor der Kattwykbrücke auf einen Erzzug aus Richtung Hansaport warten mußte. Er hatte keine Lust zu warten, umfuhr die Halbschranke und versuchte, neben dem Zug die Brücke zu passieren. Die führende Lok war aber nicht so breit wie die Schienen, wie man hätte glauben können – sondern doppelt so breit. Die stand also links und rechts etwa einen Dreiviertelmeter über die Schienen über. Dieser Dreiviertelmeter fehlte dann natürlich an Durchfahrtsbreite. Das merkte der Autofahrer aber erst, als die Lok in seinen Audi einschlug und ihn vor sich her schob.
Warum der Zug „nicht gebremst“ hat, werden Sie vielleicht fragen? Der Zug hat gebremst, und zwar schon vor der Kollision, als der Triebfahrzeugführer bemerkte, daß ihm ein Pkw entgegenkam, der keinerlei Anstalten machte anzuhalten, geschweige denn umzudrehen. Aber an die 170 Tonnen an Loks (der Zug hatte zwei davon) + 5.400 Tonnen an beladenen Erzwagen bremst man durch Entlüften von über 600 Metern Druckluftleitung auch aus 30 km/h nicht mal eben auf ein paar Metern ab. Insgesamt brauchte der Zug aus 30 km/h 40 Meter zum Stoppen – vollkommen normal übrigens –, von denen er den Pkw 25 Meter weit mitschleifte.
Was lernen wir daraus?
Schon bei normalspurigen Eisenbahnen in Kontinentaleuropa kann und muß man also von einer Fahrzeugbreite von etwa drei Metern ausgehen. Das ist doppelt so breit wie die Schienen oder auf jeder Seite mehr als eine Armlänge breiter als die Schienen für diejenigen, die es nicht mit Maßeinheiten haben und/oder ein miserables Augenmaß. Man kann auch die Schienenbreite nehmen (außen gemessen) und links und rechts jeweils noch einmal die Hälfte dazudenken.
Das ist für Normalspur sogar noch schmal: In Skandinavien und China kommt man auf bis zu 3,40 m, ebenso die Shinkansen-Züge in Japan, wo ansonsten fast alles auf Schmalspur gefahren wird – mit Fahrzeugen, die so breit sind wie europäische Normalspurfahrzeuge.
Übrigens gibt es in der Schweiz im Seetal ein dauerhaftes Problem mit der Breite von Eisenbahnfahrzeugen. Über mehr als 20 Kilometer liegt die Strecke so nah neben einer Hauptstraße, daß Eisenbahnfahrzeuge immer wieder in den Straßenbereich ragten. Autofahrer und vor allem auf der Gleisseite der Straße am Straßenrand fahrende Radfahrer verschätzten sich aber ständig bei der Breite der Schienenfahrzeuge, glaubten sie doch, die seien nicht (oder zumindest nicht wesentlich) breiter als die Schienen. So kam es ständig zu Kollisionen vor allem mit Zügen, die von hinten kamen.
Man hatte es mit Warnanstrichen auf den Stirnseiten versucht. Das brachte gar nichts, weil die Leute trotzdem nicht begriffen, wie breit die Schienenfahrzeuge, die da angerollt kamen, wirklich waren – und weil sich niemand für die Signaltöne eines Zuges interessierte, der von hinten kam. Eine andere Idee war, daß die jeweiligen Zugpersonale auf Sicht fahren und von sich aus darauf achten sollten, mit nichts zu kollidieren. Auf Sicht hätte man aber sehr langsam fahren müssen, was die Fahrzeiten immens verlängert hätte. Und wann immer irgendein Straßenfahrzeug im Lichtraumprofil der Bahnstrecke gestanden hätte, hätte man den ganzen Zug für eine Weile stoppen müssen.
Und so fährt man momentan mit speziellen Triebwagen, die eigens für diese Strecke gebaut wurden – und nur 2,65 m breit sind. Das sind Straßenbahndimensionen. Aber das ist immer noch breiter als die Schienen.
In Samut Songkhram in Thailand weiß man zum Glück, wie breit Schienenfahrzeuge sind – aus täglicher Erfahrung. Da dürfte es sogar denen noch kalt den Rücken hinunterlaufen, die noch die Ortsdurchfahrt in Olef kennen.
#Eisenbahn #DasUnbekannteVerkehrswesen #Aktuelles #BetrieblicherZwischenfall #Hamburg