Tod am Bahnübergang: Wenn Ignoranz und Borniertheit töten

Die Tagesschau brachte kürzlich eine Statistik zum Thema „Unfälle an Bahnübergängen“, die aufhorchen läßt.

2022 sind gegenüber 2010 diejenigen, die bei Kollisionen zwischen Schienen- und Straßenfahrzeugen an Bahnübergängen ums Leben gekommen sind, nicht weniger geworden. Kurioserweise ist im selben Zeitraum die Zahl der Bahnübergänge aber um 20% zurückgegangen. Mit anderen Worten: Pro Bahnübergang gibt es jetzt mehr Tote pro Jahr.

Während Charles Darwin schmunzeln dürfte, fragt sich unsereins: Wie kann das sein?

Die Frage, die man sich am ehesten stellen sollte, ist eine andere. Wieso gibt es überhaupt tödliche Unfälle an Bahnübergängen?

Freie Fahrt für den Darwin Award

An dieser Stelle sei aus dem Bericht zitiert: „Ursache der Unfälle ist in mehr als 97 Prozent Fehlverhalten von Straßenverkehrsteilnehmern. So werden bei mehr als einem Drittel der Unfälle geschlossene Halbschranken umfahren.“ Klassiker.

Mehr denn je – außer vielleicht in den 50er Jahren kurz vor Einführung von Tempo 50 innerorts und Tempo 100 außerorts im Jahr 1957 – sucht der deutsche Autofahrer beim Fahren die totale, ultimative, kompromißlose Freiheit. Freie Fahrt für freie Bürger. Alles, aber auch wirklich alles, was dem irgendwie im Wege stehen könnte, wird als Gängelung aufgefaßt und, sofern das möglich ist, ignoriert.

Wenn an einer Autobahnbaustelle Tempo 80 gilt, die Piste aber frei ist, fährt man trotzdem über 200. Auch auf Hauptausfallstraßen gibt man Bleifuß. Wenn irgendwo ein Blitzer steht, wirft man kurz vorher den Anker, fährt dann genau nach Vorschrift plus Toleranz – und drückt gleich dahinter wieder voll auf den Pin. Selbst in Wohngebieten wird ausgefahren, was die eigene Karre auf der Strecke hergibt.

Falsch herum in die Einbahnstraße? Über Straßen, die nur von Bussen oder Taxis befahren werden dürfen? Mit dem Verbrenner stundenlang auf einem Ladeplatz parken? Oder im absoluten Halteverbot? Scheißegal, sind doch keine Bullen da. Und wenn, interessiert die das eh nicht. Ich will hier langfahren, und zwar jetzt!

Bahnübergänge sind ja an sich schon Schikane, weil die Straße da so uneben ist, daß es einen schon ziemlich durchschüttelt, wenn man mit Tempo 80 drüberbrettert – wo eh nicht mehr als 50 erlaubt sind. Aber wenn dann auch noch die Sicherungsanlage rot leuchtet und, sofern vorhanden, die Halbschranken sich senken, dann ist das nichts weiter als Schikane, genau wie diese Scheiß-Blitzer und die Scheiß-Abschlepper, die den eigenen Wagen umsetzen, nur weil man mal kurz zehn Stunden vor einer Feuerwehrausfahrt geparkt hat. Nein, das kann und will man sich nicht bieten lassen.

Zum Glück sind das nur Halbschranken. Da kann man doch prima drumrum fahren, auch wenn’s immer noch bremst.

Wie, der Zug kommt schon? Der soll gefälligst bremsen, ich hab’s jetzt eilig, ich muß hier jetzt durch!

Und ewig „rast“ der Zug ins Auto rein

Aber der Zug bremst – gefühlt – überhaupt nicht. Statt dessen „rast“ er – gefühlt mit Vollgas – dem armen Autofahrer voll ins Auto rein. Und – immer noch gefühlt – bremst er erst eine halbe Minute und einen Kilometer später.

Wer weder dieses Blog noch Grundlegendes über die Eisenbahn kennt, wird sich jetzt bestätigt fühlen und sich und mich fragen, wieso das denn sein kann, daß der Zug erst so spät bremst. Die Antwort ist: Er bremst überhaupt nicht später. Er bremst schon, bevor er den Bahnübergang überhaupt erreicht.

Die meisten Autofahrer haben ganz einfach keine Vorstellung davon, wie etwas bremst, was kein Pkw ist. Vielen geht doch schon der Arsch auf Grundeis, wenn sie mit einem voll beladenen 3½-Tonnen-Sprinter eine Vollbremsung hinlegen müssen – vor allem dann, wenn es trotzdem kracht, weil sie von dem Klumpen den Bremsweg eines aktuellen BMW erwartet haben.

Von, sagen wir, einem Doppelstock-Regionalexpreß, der an einem Bahnübergang in einer Ortschaft auf einen zu„gerast“ kommt, kann man Bremswege wie beim Pkw erst recht nicht erwarten.

Das fängt schon damit an, daß er sehr viel schwerer ist. Lok plus sechs Doppelstockwagen plus Passagiere plus Gepäck, da ist man ganz schnell bei über 400 Tonnen – mehr als das Startgewicht eines Jumbo-Jet. Moderne elektrische Lokomotiven, wie man sie in Deutschland antrifft, wiegen ja alleine schon über 80 Tonnen.

Dann täuscht die Größe des Zuges, den man ja obendrein nur von vorn sieht, über seine Geschwindigkeit hinweg. Autofahrer rechnen kaum damit, daß sich innerhalb einer geschlossenen Ortschaft irgendetwas schneller bewegt als vielleicht 70 km/h. Der RE kommt da aber gerade angeschossen mit auch mal 160 km/h. In einer geschlossenen Ortschaft. Ja, das ist legal. In Deutschland sind auf Strecken mit Bahnübergängen bis 160 km/h erlaubt; mit Sondergenehmigung waren es ab Ende der 70er bis in die 90er rein sogar bis zu 200 km/h.

Übrigens fahren Züge nicht nach der StVO. Die gilt ja für die Eisenbahn nicht. Züge fahren nach der Eisenbahn-Betriebsordnung (EBO). Übrigens betrachtet die EBO nichtschienengebundene Verkehrsteilnehmer, Autos inklusive, nicht als Schienenfahrzeugen gleichberechtigt. Am Bahnübergang gilt also kein „rechts vor links“.

Zurück zum Zug selbst: Wo wir schon mal dabei sind, reagieren bei der Eisenbahn auch die Bremsen langsamer. Es bremst sich schon etwas anders über vielleicht 10 m Leitung mit Bremsflüssigkeit drin als über etwa 180 m Druckluftleitung. Und das ist nur ein RE. Viel Spaß mit Intermodal-Güterzügen (740 m lang, gut 2000 Tonnen schwer, immer noch 100 oder 120 km/h schnell).

Schärfer bremsen geht auch nicht. Nicht nur, weil die Leute in Reisezügen ja nicht alle in Fahrtrichtung mit Dreipunktgurten in Liegesitze gezurrt sind und ihr Handgepäck im Kofferraum verstaut ist. Sondern weil mit blanken Stahlrädern auf blanken Stahlschienen nicht schärfer gebremst werden kann.

Und ja, das müssen Stahlräder sein. In Güterzügen tragen die Räder jeweils auch mal über 11 Tonnen. Beim ICE tragen sie 8 Tonnen und müssen tagein, tagaus 1500 Kilometer am Tag mit bis zu 300 km/h zurücklegen. Und zwar mehrere Jahre lang ohne Austausch. Da kann man Luftreifen vergessen.

Die Folge: Selbst bei einer Schnellbremsung – so heißt die Vollbremsung bei der Eisenbahn – steht ein Zug aus 160 km/h erst nach einem Kilometer. Ja, nach einem Kilometer kontinuierlichen Vollbremsens. Und dabei wird mit allem gebremst, was da ist: Radbremsen. Rekuperation (kennen hoffentlich die, die Hybrid oder E-Auto fahren). Magnetschienenbremsen (am Fahrzeug montierte lange Magnetpakete werden auf die Schienen gepackt – da macht man als Passagier wirklich einen Satz). Alles auf einmal. Trotzdem ein voller Kilometer an Bremsweg.

An unbeschrankten Bahnübergängen ist das nicht ganz so extrem, weil kaum eine öffentliche Straße eine für so hohe Geschwindigkeiten zugelassene Strecke ohne Schranken kreuzt. Aber auch den Bremsweg eines 70 Tonnen schweren Dieseltriebwagens, der mit 80 km/h auf einer Nebenbahn fährt, ist nicht zu unterschätzen. Doch, das sind wirklich 80 km/h. Das ist ja auch kein 18-Meter-Gelenkbus, sondern das Fahrzeug ist gut 40 Meter lang, das täuscht daher.

Gegenmaßnahmen

Ganz ehrlich: Bessere Verkehrserziehung funktioniert da nicht. Viele Autofahrer fühlen sich dadurch von oben herab behandelt und noch mehr gegängelt, schalten dann auf stur und fahren erst recht über geschlossene Bahnübergänge.

Es funktionieren also nur technische Maßnahmen. Die können aber nicht beim Schienenverkehr ansetzen. Wenn 30 Meter vor einem Zug ein Auto über einen geschlossenen Bahnübergang fährt, dann gibt es nichts, was den Autofahrer noch retten könnte. Die Physik kann man einfach nicht überlisten. Und nein, Mitschuld für den Triebfahrzeugführer ist auch keine Lösung, weil der in dieser Situation absolut nichts tun kann.

Ein Anfang könnte sein, Bahnübergänge mit Halbschranken auf doppelte Halbschranken zu erweitern. Die minimieren das Risiko, daß jemand zwischen den sich senkenden Schranken mit seinem Fahrzeug eingesperrt wird. Erst schließen ja die Schranken für die Fahrspur auf den Bahnübergang, dann kurz danach die für die Fahrspur vom Bahnübergang wieder runter. Das Ganze könnte zeitlich so gesteuert werden, daß alle vier Schranken unten sind, bevor der sich nähernde Zug in den Bremswegabstand kommt.

Das birgt aber immer noch ein Restrisiko in Form von Idioten, die meinen, sie könnten noch schnell unter dem sich senkenden zweiten Schrankenpaar hindurchflutschen, dann aber doch zwischen den Schranken steckenbleiben. Die wenigsten Menschen haben dann den gesunden Menschenverstand, aus ihrem Wagen auszusteigen und das Weite zu suchen. Der typische Autofahrer wird beharrlich versuchen, irgendwie sich und sein Auto vom Bahnübergang zu retten – und beides nicht schaffen. Oder er hofft, daß der Zug rechtzeitig bremst, egal, wie unübersichtlich die Strecke ist.

Unfallopfer sind aber nicht immer nur Autofahrer. Es gibt durchaus auch Radfahrer, die es irgendwie schaffen, auch geschlossene Schranken zu passieren, sei es, indem sie unter der Schranke durchkriechen, sei es, indem sie gleich ganz um die Schranken herumfahren oder -schieben. Fußgänger wiederum brauchen eigentlich gar keine Bahnübergänge – die können einfach so über die Gleise latschen. Und wenn sie nie in ihrem Leben einen Führerschein hatten, ist die Gefahr hoch, daß sie endgültig keine Vorstellung von Bremswegen haben.

Leider bleibt das Fazit: Die einzig sichere Lösung ist, alle Bahnübergänge durch Über- oder Unterführungen zu ersetzen. Das würde Unfälle gänzlich ausschließen, und die Autofahrer freuen sich, weil auch das „Gehubbel“ über die Gleise aufhört.

Gegen Unfälle mit Fußgängern hilft nur, zumindest in Ortschaften die Strecken lückenlos mit Lärmschutzwänden oder zumindest den üblichen zwei Meter hohen grünen Stahlzäunen zu versehen. Mit einigem an sportlichem Geschick ließen sich letztere durchaus überwinden. Aber irgendwann kommt man als Fußgänger an einen Punkt, wo es vielleicht doch einfacher und bequemer wäre, die Über- oder Unterführung in der Nähe zu nehmen, als über den Zaun zu klettern.

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