Braucht die Freie Linke ein Programm?
Ein Debattenbeitrag aus der Anarchistischen Libertären Strömung der Freien Linken.
Von verschiedener Seite gibt es in den Gruppierungen der Freien Linken in letzter Zeit Bestrebungen eine Art Programm zu entwickeln, mehrere dieser Entwürfe liegen bis dato vor. Wir möchten uns hier erstmal von einer anderen Seite dem Thema annähern, und zwar von der Frage nach dem Selbstverständnis der Organisationsform der Freien Linken.
Die Freie Linke startete zunächst als online-Initiative vorwiegend auf dem Messengerdienst Telegram unter den bekannten Einschränkungen des Ausnahmezustands im Corona-Maßnahmenstaat. Sie konstituierte sich im Aufruf vom 01.01.2021 als Sammlungsbewegung (1), den wir hiermit nochmal ausdrücklich zur Lektüre empfehlen und bis heute gibt es unseres Wissens keine darüberhinausgehende Erklärung, die für sich in Anspruch nehmen kann von allen Freien Linken mitgetragen zu werden.
Mit der Zeit entwickelten sich in verschiedenen Regionen Zusammenschlüsse von Aktivisten und es gab auch immer mehr off-line Aktionen im realen Leben, so fand am 06.02.2021 die erste unter dem Namen der Freien Linken angemeldete Demo in Halle statt. Zur 1. Mai-Demo 2021 in Berlin trat die Freie Linke auch als Mitorganisator einer Demo auf (2). Diese sein hier nur als Beispiele genannt, wie in Halle und Berlin kamen auch in anderen Regionen Deutschlands und auch darüber hinaus Freie Linke zusammen und wurden gemeinsam aktiv. Einen wirklichen Überblick über die regionalen Zusammenschlüsse haben wir nicht und hat vielleicht auch niemand, aber das muss kein Nachteil sein.
Mittlerweile gibt es viele Gruppen, Untergruppen und Strömungen der FL die ja auch in diesem Jahr nun zum zweiten Mal zur 1. Mai-Demo 2022 (3) in Berlin zusammenkamen. Auch wenn die von vielen erhoffte alles umwälzende Entwicklung bisher ausblieb, ist dies ein Zeichen von Kontinuität und zeigt, trotz des Streits und der Trennungen, die es unter uns auch gab, wir sind noch da. Wir heben das ausdrücklich hervor, weil wir denken, dass dies in Zeiten einer durch die Machteliten forcierten allumfassenden gesellschaftlichen Spaltung der Erwähnung wert ist.
Sind die Gruppierungen, die es unter dem Namen Freie Linke gibt, wir zählen hier die Freie Linke Zukunft ganz klar mit dazu, überhaupt eine Sammelbewegung? Wir meinen ja, hat sie doch gezeigt, dass sie zu Bewegung versammeln vermag. Klar nicht immer alle, auch nicht immer zur selben Zeit und am gleichen Ort. Im Aufruf selbst ist auch nur von einem Zusammenschluss die Rede aber aus den wörtlichen Bekundungen der Initiatoren der ersten Stunden geht diese Absicht klar hervor. Oder war es mehr als Aufgabe zu verstehen eben jenen Zusammenschluss zu bilden und wenn ja, wie ist das gelungen?
Gar nicht so einfach zu beantwortende Fragen. Wir denken es ist so gut oder schlecht gelaufen, wie es eben gut oder schlecht hatte laufen können und eigentlich ist die Frage nach dem Vergangenem auch nicht besonders interessant. Die nach der Zukunft umso mehr. Wie sollte sich also eine progressive, um mal ein Stichwort von Gerhard (4) aufzugreifen, und emanzipatorische Bewegung aufstellen, um im aktuellen Kontext Veränderungen hin zu einer freien, gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft zu bewirken denn das verstehen wir unter einem linken progressiven politischen Anspruch.
Kommen wir also zum Thema dieses Beitrags zurück. Braucht eine Sammelbewegung, braucht die Freie Linke zum jetzigen Zeitpunkt ein Programm?
Und jetzt wird es vermutlich konträr, da einige der Entwürfe sich in unseren Augen lesen als wären sie Programme für Parteien mit typisch partikularen Meinungsbildern. Es gab von Anfang an auch vereinzelt Stimmen die aus der FL eine Partei machen wollten oder dies sich zumindest für Teilmengen aus ihr vorstellen konnten und ja dieser Weg steht offen. Aber ist das eine gute Idee?
Nun werden einige vielleicht sagen, nur weil sich die FL ein Programm gibt, wird sie doch noch nicht automatisch zur Partei. Nur, was macht denn dann eine Gruppierung zur Partei, wenn nicht ein einheitliches Programm und ein bisschen Struktur?
Als Partei, im bestehenden System wäre die FL wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber als Sammlungsbewegung der linken außerparlamentarischen Opposition werden wir Sandkörner im Getriebe des immer autoritärer auftretenden Staates sein und der Stachel im Fleisch der etablierten Linken.
Eine Partei sucht immer zu vereinheitlichen und auf Linie zu bringen, der aufmerksame Leser wird diese Tendenz auch in den vorliegenden Entwürfen ausmachen. Es werden allgemein wünschenswerte Forderungen mit partikularen Meinungsbildern verbunden. Dann werden wir sehr wahrscheinlich erleben, wie eine Fraktionsbildung erfolgt mit sich anschließenden Machtkämpfen, selbst wenn diese dann auf als demokratisch bezeichnete Mehrheitsentscheidungen hinauslaufen sollten, ist der Rahmen doch im mindesten fraglich.
Wir möchten hier wirklich mal dazu anregen darüber nachzudenken, ob es nicht an der Zeit ist damit zu brechen demokratische Ansprüche in den Abfragen von Mehrheitsentscheidungen zu identifizieren, sie erzeugen immer Gewinner und Verlierer, orientieren somit zwangsläufig auf eine Kampfsituation, die den Keim der Spaltung schon in sich trägt, oft sogar ohne überhaupt den Versuch unternommen zu haben nach gangbaren Gemeinsamkeiten zu suchen. Mehrheitsentscheidungen sollten bei Entscheidungsfindungen mit echtem demokratischem Anspruch die Ausnahme und nicht die Regel sein.
Hierarchische Strukturen, ob in einer Partei oder in einem später angestrebten Rätesystem, sind außerdem leicht von den Feinden der Revolution zu beeinflussen oder sogar zu übernehmen. Besonders zentralistische Hierarchien haben es den Machtverliebten angetan, kann man doch in ihnen so schön von oben durchregieren. Ein Gegner aber braucht nur punktuell angreifen und kann bei Erfolg den ganzen Laden übernehmen, seht euch doch nur die Partei Die Linke an. Bei einer breiten Sammelbewegung aus unabhängigen Gruppierungen dürfte das viel schwerer und ressourcenaufwendiger sein. Warum es also der Reaktion unnötig leicht machen.
Wir denken aktuell ist die dringlichste Aufgabe möglichst viele unabhängige funktionierende FL-Gruppen zu gründen. Ob zu Demos oder anderen Veranstaltungen sollten diese versuchen Treffpunkte zu etablieren. Treffpunkte, an denen wir uns selbst den Gesprächsraum offenhalten und auch angesprochen werden können. Die von vielen kritisierten Online-Plätze, die viele von uns ja auch zusammengeführt haben, bewerten wir deswegen auch positiv. Man sollte nur zu einem realen Bild ihrer Möglichkeiten und Grenzen kommen. Die Möglichkeiten der Onlinepublikation sind weitere solcher Plätze, es gibt ja schon ein paar und das ist eine zu begrüßende Entwicklung. Super wären auch Print Formate, die sich ja besser für eine Hand zu Hand Weitergabe eignen und auch viel schwerer wieder aus der Welt zu bekommen sind. Es geht darum, sich den Raum zur Artikulation zu schaffen, sich dann dort auch in dieser zu üben und die Sichtbarkeit der FL weiter zu stärken. Und wenn hier von Artikulation die Rede ist, es ist jede/r Freie Linke gemeint, es gilt eine Gesprächskultur zu befördern die es als egalitär bezeichnet zu werden verdient. Es wäre wünschenswert, wenn nicht nur immer von Arbeitern geredet wird (5) sondern auch Arbeiter zu hören und zu lesen sind. Hier ist der Diskurs über diese anzuführenden „Massen“ die wir eigentlich lieber als Menschen betrachten wollen doch sehr akademisch geprägt.
Es gibt wohl Leute, die meinen, dass nur die Arbeit an Programmen einer politischen Bewegung zu Bestand und Entwicklung verhilft, ja man habe kürzlich sogar gelesen, dass jemand meinte eine politische Gruppierung „degeneriert“ wenn sie nicht an ihrem Programm arbeitet. Erstmal finden wir diese biologistisch anmutende Bezeichnung für eine Vereinigung von Menschen unangebracht und halten den hier behaupteten Automatismus auch für falsch. Es hat immer konkrete Gründe, warum sich Gruppen entwickeln oder eben auch nicht, eine Programmatik mag ein Aspekt unter anderen sein. Das Zwischenmenschliche ist vermutlich gerade im Entstehen einer Gruppe viel wichtiger, beeinflusst es doch ob später eine Vertrauensbasis entstehen kann und hier wirkt die oben beschriebene Kampfsituation fatal. Wir denken sogar, dass ein Programm zur falschen Zeit die Möglichkeiten der Entwicklung sehr einschränken kann, möglicherweise kann aber auch genau das im Interesse einzelner Akteure in Bezug auf ihre partikularen Meinungsbilder liegen.
Das Selbstverständnis der Gruppe sollte im Konsens durch die Menschen bestimmt werden, eine Programmatik birgt auch immer die Gefahr zur Dogmatik zu werden.
Als Sammelbewegung ist die Freie Linke erstmal eine geniale Idee, schon der Name ist ein Volltreffer, holt er doch den geschundenen und unter Linken zu Unrecht verschmähten Freiheitsbegriff in den linken Diskurs zurück. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit ist dringend geboten. Meist werden ja zu seiner Diskreditierung wirtschaftsliberale Entwicklungen angeführt, obwohl doch der politische Liberalismus eine wichtige Wurzel gerade in den antiautoritären linken Traditionslinien ist.
Für die Sammelbewegung Freie Linke als Ganzes können wir uns nur einen konsensorientierten Forderungskatalog vorstellen. Partikulare Meinungsbilder wie das Propagieren der Nutzung der Atomenergie als alternativlosen Heilsbringer der Menschheit (6) sind in unseren Augen, zum jetzigen Zeitpunkt bei gegebener Informationslage, sicher eher eine Minderheitsmeinung. Es gibt auch Beispiele, wie zum Beispiel die Forderung nach Bürgerräten in der Berliner Regionalgruppe, die vielleicht mehrheitsfähig sind aber trotzdem nicht im Konsens getragen werden. Auch ein links gedachter Militarismus, sei es im Gewand von Volksmilizen (7) oder globalen Eingreiftruppen für eine „Gute“ Sache wird sehr wahrscheinlich nicht im Konsens getragen werden. Zumal die Volksmilizen uns den Verdacht eines geplanten gewaltsamen Umsturzes seitens des Staates eintragen könnten und wir so selbst den Vorwand zu unserer eigenen Bekämpfung liefern. Beides, Atomenergie und Militarismus, sind in erster Linie Gefahren für Leib und Leben von unzähligen Menschen, auch wenn sie für manchen verführerische Chancen zu sein scheinen.
Und da zeigt sich auch schon ein ganz wichtiger Vorteil der Sammelbewegung, auch solche Minderheitenmeinungen können in ihr vertreten werden aber in einem nach außen gerichteten Forderungskatalog sollten sie keinen Platz bekommen, zumindest wäre ihnen Widerstand gewiss. Militaristisch geprägte Forderungen vermindern absehbar auch die Anschlussfähigkeit an pazifistisch orientierte Friedensbewegte, die ja zurzeit seitens des Mainstreams als Lumpen-Pazifisten beschimpft werden. Da rufen wir lieber in Solidarität mit diesen:
Lasst uns alle Lumpenpazifisten sein und kein Mensch hat das Recht andere in den Tod zu schicken.
„Die Freie Linke will eine breite, vereinte und strömungsübergreifende Bewegung ins Leben rufen, sich dezentral und von unten organisieren, um eine mit echter Solidarität erfüllte Erneuerung der emanzipatorischen Bewegung zum Keimen zu bringen.“ – so steht es im Aufruf. Das „breit“ und „vereint“ ist wie wir lernen mussten, nicht so leicht, eben weil es notwendig ist eine strömungsübergreifende Bewegung zu werden. Dahinter steht auch ein Lernprozess, nach dem wir hoffentlich befähigt sind, nicht mehr destruktiv Energien zu vergeuden in dem wir uns wegen der Dinge bekämpfen, in denen wir uneins sind, sondern Kraft daraus schöpfen uns zu vereinen in Zielsetzungen, die uns gemein sind. Gerhard versuchte es mit der Losung „Frieden, Freiheit, Sozialismus“, die ersten beiden Punkte „Frieden“ und „Freiheit“ stellen mehr oder weniger konkrete Zielsetzungen dar über die wir uns sehr wahrscheinlich recht problemlos einig werden. Der letzte Punkt „Sozialismus“ ist eine Frage der angestrebten Gesellschaftsordnung, also noch Utopie und was ein jeder darunter versteht ist recht verschieden. Wir Anarchisten werden dann rufen „Frieden, Freiheit, Anarchie“ und wer weiß, wenn die ersten beiden Punkte erstmal verwirklicht sind, ist das letztere sich vielleicht gar nicht mehr so unähnlich aber das sehen wir uns dann genau an. Bezugnahmen auf ideell geprägte Utopien sollten lieber in Forderungen im Namen der ganzen FL vermieden werden.
Nebenbei, wenn wir Frieden und Freiheit in einer auf Freiwilligkeit basierenden gerechten wie menschenwürdigen Gesellschaft verwirklicht haben, haben wir Anarchie. Dann herrscht kein Mensch mehr über einen anderen und wir sind FREI von Herrschaft.
Wenn wir Forderungen aufstellen, dann solche die eben diese Freiwilligkeit, ein menschenwürdiges Leben unter Anerkennung der individuellen Bedürfnisse und der weitestgehend freien Entfaltung der individuellen Potentiale betonen.
Man möge uns hier nicht falsch verstehen, wir denken Utopien sind wichtig für die Menschen. Wir dürfen unsere Träume und unsere Wünsche für eine bessere Zukunft nicht unterbewerten, aber es sollte auf konstruktive Weise seinen Platz in den Strömungen und Initiativen der Mitstreiter finden damit es nicht trennend zwischen uns steht.
Wir fassen zusammen, momentan ist Basisarbeit gefordert, es müssen funktionsfähige Gruppen aufgebaut werden, die daran arbeiten Treffpunkte zu etablieren. Ein einheitliches Programm stellt hier aus unserer Sicht eher eine unnötige Limitation dar. Im Gegensatz dazu erscheint uns ein im Konsens getragener Forderungskatalog, der möglichst auf trennenden ideologischen Ballast verzichtet durchaus wichtig also lasst uns lieber gemeinsam daran arbeiten.
Dieser Beitrag wird von mehreren Mitgliedern der Anarchistischen Libertären Strömung der Freien Linken getragen (Juni, 2022).
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Quellen:
1 https://freie-linke.de/mitteilungen-der-freien-linken/aufruf-der-freien-linken
3 https://freie-linke-berlin.de/archiv/auf-gehts-zum-1-mai/?noamp=mobile
5 https://netzwerk-linker-widerstand.ru/magma/2022/06/fuer-eine-neue-arbeiterpartei/